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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Schluck Kaffee.
    »Wenn Sie mich fragen: Sie haben etwas. Oder andersherum: Ihnen fehlt etwas. Das kommt ja aufs Gleiche heraus.«
    »Manchmal kommt mir das auch so vor«, sagte ich ganz offen.
    »Wir Wissenschaftler nennen diesen Zustand Evolutionsprozess. Die Evolution ist unbarmherzig, früher oder später werden auch Sie das verstehen. Das Unbarmherzigste an der Evolution ist – na, was meinen Sie?«
    »Ich weiß es nicht, klären Sie mich bitte auf.«
    »Sie lässt sich nicht wählen, niemand hat eine Wahl. Die Evolution fällt in dieselbe Kategorie wie Überschwemmungen, Lawinen, Erdbeben. Man weiß nichts von ihr, bis sie kommt, und wenn sie da ist, ist man machtlos.«
    »Mhm«, sagte ich. »Meinen Sie mit Evolution die Lautlosigkeit, von der Sie eben sprachen? Dass ich nicht mehr werde sprechen können?«
    »Wenn ich genau sein soll, nein. Das eigentliche Problem ist nicht, ob man sprechen kann oder nicht. Das ist nur ein Schritt, nicht mehr.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte ich. Ich bin im Allgemeinen ein ehrlicher Mensch. Wenn ich etwas verstanden habe, sage ich, dass ich es verstanden habe, und wenn ich etwas nicht verstanden habe, sage ich, dass ich es nicht verstanden habe. Ambivalente Aussagen treffe ich nicht. Die meisten Schwierigkeiten sind, glaube ich, auf unklare Ausdrucksweise zurückzuführen. Ich bin der Überzeugung, dass viele Leute sich deshalb so unklar ausdrücken, weil sie unbewusst, im Grunde ihres Herzens, Schwierigkeiten suchen. Anders kann ich es mir nicht erklären.
    »Aber sprechen wir nicht weiter davon«, sagte der Alte und lachte wieder sein spezielles Lachen, dass mir die Ohren dröhnten. »Halten wir Maß, allzu kompliziertes Zeug stört Sie nur bei Ihren Berechnungen.«
    Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Außerdem piepste gerade meine Uhr, und ich machte mich wieder ans Zahlenwaschen. Der Alte nahm etwas aus einer Schreibtischschublade, eine Art Feuerzange aus Edelstahl, ging mit dem Instrument in der rechten Hand vor dem Regal, auf dem die Schädel lagen, auf und ab, klopfte mal hier, mal dort und lauschte. Er machte den Eindruck eines Meisterviolinisten, der vor einer Sammlung Stradivaris steht und hier und da eine herausnimmt, um ihre Pizzicati zu prüfen. Allein an den Geräuschen hörte man, dass der Alte den Schädeln eine ungewöhnliche Liebe entgegenbrachte. Jeder dieser Schädel hieß einfach »Schädel«, und doch produzierten sie wirklich die unterschiedlichsten Töne. Der eine klang wie ein Whiskeyglas, der andere wie ein großer Blumentopf. Und sie alle waren einmal mit Fleisch und Haut bedeckt gewesen, hatten Gehirn durchaus unterschiedlicher Größe umschlossen, hatten an Essen und an Sex gedacht. Das war nun alles weg, geblieben waren nur die verschiedenen Klänge. Klänge wie Glas und wie Blumentöpfe, wie Teekessel, wie Kistchen aus Holz, wie Rohre aus Blei.
    Ich stellte mir vor, wie mein Schädel, gehäutet und entfleischt, das Hirn entnommen, dort auf dem Regal stand und von dem Alten mit der Feuerzange beklopft wurde. Mir wurde seltsam zumute. Was würde der Alte wohl aus meinem Schädel heraushören? Würde er meine vergangenen Gedanken lesen oder etwas, das mit meinen Gedanken nichts zu tun hatte? Was es auch sein mochte, es beunruhigte mich.
    Den Tod an sich fürchtete ich nicht so sehr. Wie Shakespeare sagt: Wer dies Jahr stirbt, ist für das nächste quitt. So simpel war das, recht besehen. Aber nach dem Tod als Schädel auf einem Regal zu stehen und mit einer Feuerzange beklopft zu werden, das wollte mir wenig gefallen. Allein der Gedanke, dass man noch nach meinem Tode etwas aus mir herauszöge, machte mich trübsinnig. Das Leben war nicht einfach, keineswegs, aber seine Klippen umschiffte ich in der Weise, die ich für richtig hielt. Und das war in Ordnung. Wie bei Henry Fonda in Warlock. Aber nach dem Tod würde ich doch gerne sanft schlafen. Ich glaubte zu verstehen, warum die Pharaonen im alten Ägypten darauf brannten, sich nach dem Tod in Pyramiden einmauern zu lassen.

    Ein paar Stunden später war ich endlich mit dem Zahlenwaschen fertig. Wie lange genau ich gebraucht hatte, weiß ich nicht, da ich die Zeit nicht genommen hatte, aber nach meinem Erschöpfungszustand zu schließen, mussten es um die acht oder neun Stunden gewesen sein. Ein schönes Stück Arbeit. Ich erhob mich vom Sofa, gähnte ausgiebig und machte verschiedene Lockerungsübungen. Das Handbuch für Kalkulatoren beschreibt in Diagrammen Lockerungsübungen für

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