Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
um Stufe die Höhe vorstellen; im Gesicht und unter den Achseln stand mir der kalte Schweiß. Die Leiter musste drei, vier Stockwerke hoch sein; außerdem waren die Stufen von der Feuchtigkeit glitschig, sodass man, wenn man nicht abgleiten wollte, jeden Schritt mit Bedacht setzen musste.
    Ich hätte unterwegs gerne ein Weilchen pausiert, aber mit dem Mädchen dichtauf war an Anhalten nicht zu denken, sodass wir die Leiter schließlich in einem Zug erklommen. Wenn ich daran dachte, dass ich in drei Tagen diesen Weg zum Labor noch einmal nehmen musste, wurde mir übel, aber was wollte ich machen? Das war im Bonus inbegriffen.
    Als wir durch den Wandschrank wieder das Zimmer betraten, nahm die Kleine mir die Schutzbrille ab und zog mir den Gummimantel aus. Ich zog die Stiefel aus und legte die Taschenlampe irgendwo ab.
    »Hat es mit der Arbeit geklappt?«, fragte sie. Ihre Stimme, die ich zum ersten Mal hörte, war weich und klar.
    Ich sah sie an und nickte. »Wenn es nicht geklappt hätte, wäre ich noch nicht zurückgekommen. Das ist unser Job.«
    »Vielen Dank, dass Sie meinem Großvater das mit dem Ton gesagt haben. Es hat mir sehr geholfen. Das ging nämlich schon eine ganze Woche so.«
    »Warum haben Sie es mir nicht auf einem Zettel mitgeteilt? Ich hätte früher Bescheid gewusst, und es hätte einiges Durcheinander erspart.«
    Die Kleine ließ stumm ihren Blick über den Schreibtisch schweifen und korrigierte den Sitz ihrer beiden großen Ohrringe. »Das ist Vorschrift«, sagte sie.
    »Sich nicht schriftlich zu unterhalten?«
    »Das ist auch Vorschrift.«
    »Aha«, sagte ich.
    »Alles, was Regression bedeuten könnte, ist verboten.«
    »Verstehe«, sagte ich anerkennend. Man war wirklich gründlich.
    »Wie alt bist du?«, fragte die Kleine.
    »35«, sagte ich. »Und du?«
    »17«, sagte sie. »Einem Kalkulator bin ich noch nie begegnet. Einem Semioten allerdings auch noch nicht.«
    »Bist du wirklich erst siebzehn?«, fragte ich verblüfft.
    »Sicher. Ich lüge nie. Ich bin wirklich siebzehn. Aber ich sehe älter aus, nicht?«
    »Ja«, sagte ich ehrlich. »Du siehst aus wie über zwanzig.«
    »Wie siebzehn will ich auch nicht aussehen«, sagte sie.
    »Gehst du nicht zur Schule?«
    »Von der Schule möchte ich nicht reden. Jedenfalls nicht jetzt. Ich sag’s dir beim nächsten Mal.«
    »Okay«, sagte ich. Sie würde schon ihre Gründe haben.
    »Sag mal, wie lebt eigentlich ein Kalkulator so?«
    »Abgesehen von der Arbeit führen wir, ob wir nun Kalkulatoren sind oder Semioten, ein ganz normales Leben, wie ganz normale Leute.«
    »Normale Leute sind vielleicht normal, aber ihr Leben ist kein Leben.«
    »Nun ja, so kann man das sehen«, sagte ich. »Was ich meine, ist die ganz gewöhnliche Oberfläche. Wir sitzen in der Bahn und fallen niemandem auf, wir essen wie alle, wir trinken Bier – vielen Dank übrigens für die Sandwiches. Sie waren großartig.«
    »Wirklich?«, sagte sie und strahlte.
    »So gute Sandwiches bekommt man selten. Und ich habe schon viele gegessen.«
    »Und der Kaffee?«
    »Der Kaffee war auch gut.«
    »Möchtest du hier noch eine Tasse trinken? Dann könnten wir uns noch ein bisschen unterhalten.«
    »Nein danke«, sagte ich. »Kaffee habe ich unten schon zu viel getrunken, ich kriege keinen Tropfen mehr runter. Außerdem will ich nach Hause, mich so schnell wie möglich aufs Ohr legen.«
    »Schade.«
    »Das finde ich auch, wirklich.«
    »Na gut, ich bring dich aber noch zum Aufzug. Alleine findest du ihn doch nicht, oder? Der Korridor ist ziemlich labyrinthisch.«
    »Alleine finde ich ihn kaum, nein«, sagte ich.
    Das Mädchen nahm ein rundes, hutschachtelähnliches Ding vom Schreibtisch und reichte es mir. Ich wog es prüfend in den Händen. Für seine Größe war es nicht sehr schwer. Wenn es wirklich eine Hutschachtel war, dann musste sie einen ziemlich großen Hut enthalten. Um zu verhindern, dass der Deckel aufging, war die Schachtel mit dickem Klebeband umwickelt.
    »Was ist das denn?«
    »Ein Geschenk für dich von meinem Großvater. Mach es auf, wenn du zu Hause bist.«
    Ich schüttelte die Schachtel sachte. Kein Geräusch, kein Widerstand.
    »Es sei zerbrechlich, du sollst bitte aufpassen«, sagte die Kleine.
    »Vielleicht eine Vase oder so etwas?«
    »Ich habe keine Ahnung. Mach’s zu Hause auf, dann weißt du’s.« Dann öffnete sie ihre rosafarbene Handtasche und gab mir einen Umschlag mit einem Scheck. Er war auf einen etwas höheren Betrag ausgestellt, als ich erwartet

Weitere Kostenlose Bücher