Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Tasche, schrieb mit einem Kugelschreiber etwas hinein, riss das Blatt heraus und gab es mir. »Meine Telefonnummer«, sagte sie. »Wenn du dich mit mir treffen möchtest oder etwas zu essen übrig hast, ruf mich an. Ich komme dann.«
Als sie mit den drei ausgeliehenen Säugetierbüchern unterm Arm verschwunden war, kam es mir merkwürdig still in der Wohnung vor, unangenehm still. Ich stellte mich vor den Fernseher, nahm das T-Shirt ab und sah mir noch einmal den Einhornschädel an. Und mir schien, obwohl es nicht den geringsten Beleg dafür gab, dass mein Einhornschädel ebenjener rätselhafte Schädel war, den der unglückselige junge Infanteriehauptmann an der ukrainischen Front aufgelesen hatte. Je länger ich ihn ansah, desto deutlicher glaubte ich eine Art Karma wahrzunehmen, das ihn umgab. Da ich gerade erst die Geschichte gehört hatte, bildete ich mir das vielleicht auch nur ein. Ohne besonderen Vorsatz griff ich nach der Stahlzange und klopfte damit sachte auf den Schädel.
Danach spülte ich das Geschirr und die Gläser und wischte den Küchentisch ab. Langsam war es Zeit für das Shuffling. Um nicht gestört zu werden, stellte ich den Anrufbeantworter an, unterbrach die Leitung der Türklingel und löschte bis auf die Stehlampe in der Küche alles Licht in der Wohnung. Für mindestens zwei Stunden musste ich mich voll und ganz auf das Shuffling konzentrieren.
Mein Shuffling-Passwort lautet »Das Ende der Welt«. Auf der Basis eines »Das Ende der Welt« betitelten, höchst individualistisch zugeschnittenen Schauspiels ordne ich die gewaschenen Daten computerberechenbar neu an. Mit »Schauspiel« ist natürlich etwas völlig anderes gemeint als das, was man im Fernsehen oder auf der Bühne sieht. Alles geht durcheinander, einen roten Faden gibt es nicht. Die Bezeichnung »Schauspiel« ist nichts weiter als eine Hilfsbenennung, aus praktischen Gründen. Um was es in dem Stück geht, weiß ich nicht, man hat es mir nicht mitgeteilt. Ich kenne lediglich den Titel: »Das Ende der Welt«. Sonst nichts.
Determiniert wurde das Schauspiel von Wissenschaftlern des Systems. Nach einem Jahr vorbereitenden Trainings wurde ich nach Bestehen der letzten Kalkulatorprüfung für zwei Wochen eingefroren. In dieser Zeit untersuchte man alle meine Gehirnwellen, extrahierte etwas, das man als Bewusstseinsnukleus bezeichnen könnte, bestimmte ihn als Pass-Schauspiel fürs Shuffling und pflanzte ihn mir wieder ins Gehirn ein. Man sagte mir, der Titel des Schauspiels laute »Das Ende der Welt«, und das sei mein Passwort fürs Shuffling. Mein Bewusstsein ist also vollständig doppelstrukturiert. Zum einen existiert die Gesamtheit des Bewusstseins als Chaos, und zum anderen, darin eingebettet wie der Kern einer Salzpflaume, der Bewusstseinsnukleus, das komprimierte, zusammengefasste Chaos.
Den Inhalt des Bewusstseinsnukleus teilte man mir jedoch nicht mit.
»Den brauchen Sie nicht zu kennen«, erklärte man. »Bei Bedarf können Sie den Nukleus abrufen. Denn das Pass-Schauspiel ›Das Ende der Welt‹ sind Sie selbst. Den Inhalt des Stückes können Sie aber nicht in Erfahrung bringen. Alles spielt sich im Meer des Chaos ab. Sie tauchen mit leeren Händen in das Chaos ein, und Sie tauchen mit leeren Händen wieder daraus hervor. Genau diese Bewusstseinslosigkeit brauchen wir. Verstehen Sie?«
»Ich denke schon«, sagte ich.
Dann brachten sie mir das Shuffling bei. Durchzuführen sei es allein, nachts, mit nicht zu vollem und nicht zu leerem Magen. Dreimal sei ein festgelegtes Tonmuster abzuhören. Auf diese Weise könne ich »Das Ende der Welt« abrufen. Sobald es abgerufen werde, ginge mein Bewusstsein im Chaos unter. Inmitten dieses Chaos würde ich die Daten shuffeln. Mit Beendigung des Shuffling würde »Das Ende der Welt« abgebrochen und mein Bewusstsein träte wieder aus dem Chaos heraus. Damit sei das Shuffling vollzogen, ich würde mich an nichts erinnern. Beim Re-Shuffling liefe der Prozess schlicht umgekehrt. Zum Re-Shuffling sei das Re-Shuffling-Tonmuster abzuhören.
Das war das Programm, das man mir eingegeben hatte. Ich fungierte lediglich als Tunnel zum Unbewussten. Alles ging nur durch mich hindurch. Beim Shuffling fühlte ich mich deshalb immer ungeheuer verletzlich und unsicher. Beim Datenwaschen war das anders. Das Datenwaschen war mühsam und aufwendig, aber ich konnte dabei stolz sein auf mich, denn es verlangte den konzentrierten Einsatz all meines Könnens.
Das Shuffling dagegen hatte mit Können
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