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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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holen.«
    Er verschwindet rechts hinter einer Tür am Ende des Raums und holt ein Kistchen Nägel.
    »Hör gut zu«, sagt er und prüft dabei die Länge der Nägel in dem Kistchen. »Erstens: Du zeichnest eine Karte dieser Stadt. Und zwar nicht nach Angaben Dritter, du gehst selbst durch die Stadt und zeichnest nur das ein, was du mit eigenen Augen gesehen hast. Alles – du darfst nichts weglassen, nicht die kleinste Kleinigkeit.«
    »Das dauert aber«, sage ich.
    »Herbstende reicht, bis dahin bringst du sie mir«, sagt der Schatten schnell. »Zweitens will ich schriftliche Erläuterungen dazu. Besonders genau untersuchen sollst du den Verlauf der Mauer, Ostwald und Ein- und Austrittsstelle des Flusses. Das ist alles.Verstanden?«
    Damit verschwindet er auch schon durch die Tür, ohne mich ein einziges Mal anzusehen. Als er weg ist, rekapituliere ich langsam, was er gesagt hat. Verlauf der Mauer, Ostwald, Ein- und Austrittsstelle des Flusses. Gar keine schlechte Idee, eine Karte anzufertigen. Ich kann die grobe Anlage der Stadt kennen lernen und zudem noch meine überschüssige Zeit sinnvoll nutzen. Aber am glücklichsten bin ich darüber, dass der Schatten mir noch vertraut.
    Der Wächter kommt wenig später. Er wischt sich erst einmal mit einem Handtuch den Schweiß ab und den Schmutz von den Händen. Dann lässt er sich in einen Stuhl mir gegenüber fallen.
    »Also, was gibt’s?«
    »Ich möchte den Schatten besuchen.«
    Der Wächter nickt ein paar Mal, stopft seine Pfeife und zündet sie mit einem Streichholz an.
    »Das geht jetzt noch nicht«, sagt er. »Tut mir leid, aber es ist zu früh. Er ist noch zu stark. Warte, bis die Tage kürzer werden. Das kann nicht schaden.« Dabei bricht er das abgebrannte Streichholz entzwei und wirft es in einen Teller auf dem Tisch. »Auch für dich ist es besser so, glaub mir. Dem Schatten jetzt zwischendurch allzu freundlich zu kommen gibt nichts als Ärger. Ich hab das schon so oft erlebt. Ich meine es nur gut mit dir, gedulde dich noch ein bisschen.«
    Ich nicke nur und sage nichts. Er würde sowieso nicht auf mich hören, und ich habe mich schließlich schon mit dem Schatten kurzgeschlossen. Jetzt kann ich ruhig abwarten, bis der Wächter mir eine neue Gelegenheit gibt.
    Er erhebt sich von seinem Stuhl, geht zur Spüle und trinkt Wasser aus einer großen Porzellantasse, die er einige Male nachfüllt.
    »Wie steht’s mit der Arbeit – gut?«
    »Es geht. Langsam gewöhne ich mich ein.«
    »Na siehst du«, sagt der Wächter. »Ordentlich arbeiten, das ist die Hauptsache. Leute, die nicht in der Lage sind, ihre Arbeit zu machen, kommen nur auf dumme Gedanken.«
    Ich höre, wie mein Schatten draußen weiter Nägel einschlägt.
    »Komm, wir gehen ein bisschen spazieren«, sagt der Wächter. »Ich zeig dir was.«
    Ich folge ihm hinaus. Draußen auf dem Platz sitzt mein Schatten gerade auf dem Wagen und nagelt die letzte Seitenplanke an. Bis auf Achsen und Räder ist der Karren jetzt nagelneu.
    Der Wächter überquert den Platz und führt mich bis unterhalb eines der Hochsitze an der Mauer. Es ist ein schwüler, düster bewölkter Nachmittag. Am Himmel über der Mauer hängen dunkle Wolken, die von Westen her aufgekommen sind; jeden Moment kann es regnen. Klatschnass vor Schweiß klebt das Hemd des Wächters an seinem gewaltigen Körper und stinkt zum Himmel.
    »Das nenn ich eine Mauer!«, sagt der Wächter, mit der Hand ein paar Mal darauf klopfend, als tätschele er ein Pferd. »Sieben Meter hoch, umschließt die ganze Stadt. Nur die Vögel können sie überwinden. Kein Ein- und Ausgang außer dem Tor hier. Früher gab es noch ein Osttor, aber das ist jetzt zugemauert. Sie ist aus Ziegelsteinen, aber was für welchen – sieh sie dir an! Nichts und niemand schafft es, sie zu durchbrechen oder auch nur anzukratzen. Keine Kanone, nicht einmal ein Erdbeben oder ein Orkan!«
    Während er das sagt, hebt er ein Stück Holz vom Boden auf und fängt an, es mit dem Messer zu bearbeiten. Das Messer gleitet fast spielerisch durch das Holz, und bald ist ein kleiner Keil daraus geworden.
    »Sieh dir das an«, sagt der Wächter. »Fugen gibt es zwischen den einzelnen Steinen nicht – diese Ziegel haben so was nämlich nicht nötig. Sie sind so genau eingepasst, dass nicht einmal ein Haar dazwischen Platz finden würde.« Mit dem scharf zugespitzten Keil fährt der Wächter die Trennlinien zwischen den Steinen entlang, die Keilspitze lässt sich aber keinen Mikrometer hineinschieben. Er

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