Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
zum Größenvergleich eine Armbanduhr gelegt. Ein weißer, mitten auf dem Schädel aufgemalter Kreis zeigte an, wo das Horn saß. Das war ohne jeden Zweifel ein Schädel von derselben Art, wie ich ihn von dem Alten bekommen hatte. Absolut gleich – mit dem einen Unterschied, dass bei meinem der Stumpf des Hornes fehlte. Ich schaute zu dem Schädel auf dem Fernseher. Aus der Entfernung sah der mit einem T-Shirt abgedeckte Schädel wie eine schlafende Katze aus. Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass nun ich im Besitz des Schädels sei, hielt aber schließlich den Mund. Ein Geheimnis ist umso mehr Geheimnis, je weniger Leute davon wissen.
»Ist der Schädel im Krieg wirklich zerstört worden?«, fragte ich.
»Wer weiß«, sagte sie und spielte mit dem kleinen Finger an ihrem Stirnhaar. »In dem Buch heißt es, in Leningrad sei ein Stadtbezirk nach dem anderen niedergewalzt worden, so heftig seien die Kämpfe gewesen, und da der Bezirk, in dem die Universität stand, mit am schlimmsten betroffen war, lautet die wahrscheinlichste Annahme, dass der Schädel zerstört worden ist. Aber natürlich ist nicht auszuschließen, dass Professor Perow ihn vor Beginn der Schlacht beiseite geschafft und irgendwo versteckt hat oder dass die Deutschen ihn als Beutegut mitgenommen haben … Jedenfalls hat ihn seitdem nie wieder jemand gesehen.«
Ich schaute mir noch einmal das Foto an, klappte das Buch dann zu und legte es ans Kopfende. Dann dachte ich eine Weile darüber nach, ob der Schädel in meinem Besitz wirklich identisch war mit dem, den man in der Universität Leningrad aufbewahrt hatte, oder ob es sich um einen woanders ausgegrabenen Schädel eines anderen Einhorns handelte. Das Einfachste wäre, direkt den Alten zu fragen. Wie er in den Besitz des Schädels gekommen sei und warum er ihn mir geschenkt habe. Ich würde ihn ohnehin noch einmal aufsuchen müssen, um ihm die geshuffelten Daten zu bringen, dann könnte ich ihn fragen. Bis dahin hatte es wenig Zweck, sich den Kopf zu zerbrechen.
Während ich so grübelte und die Decke anstarrte, legte sie den Kopf auf meine Brust und kuschelte sich an mich. Ich legte meinen Arm um sie. Nachdem das Kapitel Einhorn fürs Erste abgeschlossen war, ging es mir ein wenig besser; auf meinen Penis übertrug sich diese Stimmung allerdings nicht. Die Bibliothekarin aber schien es wenig zu kümmern, ob mein Penis erigiert war oder nicht, und sie malte mit den Fingern allerlei bizarre Muster auf meinen Bauch.
10 DAS ENDE DER WELT
DIE MAUER
Als ich an einem bewölkten Nachmittag unten bei der Hütte des Wächters ankomme, ist mein Schatten gerade dabei, dem Wächter bei der Reparatur eines Karrens zu helfen. Sie haben den Wagen auf den Platz geschoben, die alten Bretter aus Boden und Seiten herausgenommen und ersetzen sie nun durch neue. Mit geübten Händen hobelt der Wächter die Bretter, während der Schatten sie mit einem Hammer festnagelt. Sein Zustand hat sich anscheinend kaum verändert, seit ich mich von ihm getrennt habe. Körperlich scheint es ihm nicht unbedingt schlecht zu gehen, aber seine Bewegungen wirken irgendwie steif, und um die Augen haben sich Falten des Missmuts gebildet.
Als ich näher komme, halten die beiden inne und sehen auf.
»Was gibt’s?«, fragt der Wächter.
»Ich möchte kurz mit Ihnen reden«, sage ich.
»Ich bin bald fertig, geh schon mal rein, ich komme gleich«, sagt der Wächter mit Blick auf das Brett, das er gerade unter dem Hobel hat. Der Schatten sieht mich noch einmal flüchtig an, wendet sich aber sofort wieder seiner Arbeit zu. Er scheint stinksauer auf mich zu sein.
Ich gehe in die Hütte, setze mich an den Tisch und warte auf den Wächter. Auf dem Tisch herrscht wie immer Unordnung. Der Wächter räumt ihn nur ab, wenn er seine Messer schleifen will. Schmutzige Teller und Tassen, eine Pfeife, Kaffeemehl und Hobelspäne – alles ein einziges Durcheinander. Nur die Messer auf dem Regal an der Wand liegen fein säuberlich in Reih und Glied.
Der Wächter lässt auf sich warten. Ich stütze die Ellbogen auf die Rückenlehne und starre gelangweilt an die Decke. In dieser Stadt hat man ständig zu viel Zeit. Nervend ist das. Unweigerlich entwickelt man seine ganz speziellen Methoden, sie totzuschlagen.
Draußen hobelt und hämmert es die ganze Zeit weiter.
Endlich geht die Tür auf – aber herein kommt nicht der Wächter, sondern mein Schatten.
»Ich hab nicht viel Zeit«, sagt er im Vorbeigehen. »Ich soll Nägel aus dem Lager
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