Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
wirft den Keil weg und kratzt als Nächstes mit dem Messer an der Oberfläche der Ziegel. Nicht das kleinste Schrämmchen bleibt zurück, nur ein unangenehmes Kratzen in den Ohren. Der Wächter untersucht die Spitze seines Messers und steckt es dann in Scheide und Tasche zurück.
»Nichts und niemand kann die Mauer auch nur ankratzen. Hinaufzusteigen schafft auch niemand. Und warum? Weil die Mauer perfekt ist. Merk dir das gut. Hier kommt niemand raus. Dumme Gedanken kannst du dir sparen.«
Dann legt er mir seine gewaltige Hand auf die Schulter.
»Ich weiß doch auch, dass es hart für dich ist. Aber schließlich haben das alle mal durchgemacht. Auch du musst da durch. Aber danach kommt die Erlösung. Kein Grübeln, kein Zweifeln und kein Leiden mehr – alles das ist von einem Augenblick auf den anderen verschwunden, völlig wertlos. Ich meine es nur gut mit dir, vergiss den Schatten. Hier ist das Ende der Welt. Hier endet die Welt, kein Weg führt mehr weiter. Auch du kannst nirgendwo anders mehr hin.« Dabei klopft er mir noch einmal auf die Schulter.
Auf dem Rückweg lehne ich mich ungefähr in der Mitte der Alten Brücke an das Geländer, blicke auf den Fluss und denke darüber nach, was der Wächter gesagt hat.
Das Ende der Welt.
Aber warum sollte ich der alten Welt den Rücken gekehrt haben und zum Ende der Welt gekommen sein? Ich kann mich beim besten Willen nicht an die Umstände erinnern, an keinen Sinn und keinen Zweck. Irgendetwas, irgendeine Macht hat mich hierhin gelotst. Irgendeine unsinnige, starke Macht. Für sie habe ich meinen Schatten und meine Erinnerungen verloren und stehe jetzt im Begriff, meine Seele zu verlieren.
Unter mir plätschert der Fluss munter vor sich hin. Die Weiden auf der Sandbank lassen ihre Zweige ins Wasser hängen und gemütlich von der Strömung wiegen. Das Wasser ist rein und klar. An einer stockenden Stelle bei einem Felsbrocken kann man Fische sehen. Indem ich dem Treiben des Flusses so zusehe, bekomme ich meine innere Ruhe zurück. Das funktioniert immer.
Von der Brücke aus führen Treppen zur Sandbank hinunter. Im Schatten der Weiden steht eine Bank, bei der immer ein paar Tiere liegen und dösen. Ich steige oft hinunter und füttere sie mit Brotstückchen, die ich in meine Hosentaschen gestopft habe. Erst sind die Tiere etwas scheu, dann recken sie rasch ihre Hälse und fressen mir die Brotkrumen aus der Hand. Es sind immer nur die ganz alten oder die ganz jungen Tiere, die mir aus der Hand fressen.
Je weiter der Herbst fortschreitet, erfüllt eine Art Traurigkeit ihre Augen, die an tiefe Seen erinnern. Das verfärbte Laub, die welken Gräser kündigen den Tieren die Zeit des langen, harten Hungers an. Und wie der Alte vorausgesagt hat, wird dies wohl auch für mich eine lange, harte Zeit werden.
11 HARD-BOILED WONDERLAND
ANKLEIDEN, CHAOS
Als die Zeiger der Uhr halb zehn zeigten, stand sie auf, sammelte die auf dem Boden verstreuten Kleider zusammen und zog sich in aller Ruhe an. Ich lag im Bett, einen Ellbogen aufgestützt, und sah ihr dabei aus den Augenwinkeln zu. Ohne jede überflüssige Bewegung und geschmeidig wie ein schlanker Wintervogel legte sie ein Kleidungsstück nach dem anderen an, ruhig, still. Sie zog den Reißverschluss des Rockes hoch, knöpfte sich von oben nach unten langsam die Bluse zu, setzte sich schließlich auf die Bettkante und streifte die Strümpfe über. Dann küsste sie mich auf die Wange. Frauen, die sich auf faszinierende Weise ausziehen, gibt es viele; Frauen, die sich auf faszinierende Weise anziehen, sind seltener. Als sie fertig angezogen war und mit dem Handrücken ihr langes Haar nach hinten strich, schien die Atmosphäre im Zimmer verändert.
»Vielen Dank für das Essen«, sagte sie.
»Gern geschehen«, sagte ich.
»Kochst du immer so viel für dich?«, fragte sie.
»Wenn ich nicht zu viel zu tun habe«, sagte ich. »Wenn ich viel zu tun habe, koche ich nicht. Dann esse ich Reste oder gehe ins Restaurant.«
Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl, nahm die Zigaretten aus ihrer Handtasche und zündete sich eine an. »Ich koche fast nie für mich. Ich koche nicht gerne, und außerdem wird mir schon schlecht, wenn ich nur daran denke, abends kurz vor sieben nach Hause zu kommen, jede Menge zu kochen und dann restlos alles wegzuputzen. Dann kommt’s einem so vor, als ob man nur fürs Essen lebt, findest du nicht?«
Ich sagte, da wäre was dran.
Während ich mich ankleidete, zog sie ein Notizbuch aus ihrer
Weitere Kostenlose Bücher