Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
hat, dick verzementiert worden und unpassierbar.
Der Fluss kommt mit ziemlichem Druck aus den östlichen Bergen, taucht plötzlich neben dem Osttor unter der Mauer auf, fließt dann gerade Richtung Westen durch das Stadtzentrum und wirft in der Gegend um die Alte Brücke ein paar schöne Sandbänke auf. Drei Brücken führen hinüber: die Ostbrücke, die Alte Brücke und die Westbrücke. Die Alte Brücke ist die älteste, größte und auch die schönste. Ungefähr an der Stelle unterhalb der Westbrücke macht der Fluss eine plötzliche Biegung nach Süden und erreicht schließlich in einer leichten Ostschleife, als würde er zurückfließen, die Mauer im Süden. Kurz vor der Mauer hat der Fluss eine Seite des Südhügels ausgewaschen und ein tiefes Tal geschnitten.
Aber der Fluss verlässt die Mauer im Süden nicht wieder, sondern staut sich kurz davor zu einem See und versickert in den darunter liegenden Höhlen aus Kalkgestein. Seine unzähligen unterirdischen Wasseradern sollen – der Erzählung des Oberst zufolge – die sich jenseits der Mauer unendlich weit erstreckende Wüste aus Kalkgestein durchlöchert haben wie ein Sieb.
Natürlich läuft unterdessen meine Arbeit als Traumleser weiter. Punkt sechs drücke ich das Bibliothekstor auf, esse mit der Bibliothekarin zusammen zu Abend und lese dann alte Träume.
Mittlerweile kann ich an einem Abend fünf bis sechs Träume lesen. Ich bin jetzt in der Lage, dem Strahlengewirr bis in die kleinsten Verästelungen zu folgen, und kann das Gesamtbild und die Schwingungen klarer aufnehmen. Was das Traumlesen für einen Sinn haben soll, begreife ich noch nicht, ebenso weiß ich nicht, nach welchem Prinzip diese »alten Träume« überhaupt zustande kommen, aber dass meine Leistung zufriedenstellend ist, sehe ich an der Reaktion der Bibliothekarin. Ich kann jetzt in das Licht sehen, das der Schädel freisetzt, ohne dass mir die Augen schmerzen, und ich ermüde längst nicht mehr so leicht. Die Schädel, die ich zu Ende gelesen habe, stellt die Bibliothekarin auf der Theke auf. Wenn ich am nächsten Tag in die Bibliothek zurückkomme, werden sie wie immer verschwunden sein.
»Sie machen aber sehr rasch Fortschritte!«, sagt sie. »Die Arbeit geht viel schneller voran, als ich gedacht hatte.«
»Wie viele Schädel sind denn noch da?«
»Unmengen. Tausend oder zweitausend. Soll ich sie Ihnen mal zeigen?«
Sie führt mich hinter die Theke in das Magazin. Es ist ein großer schlichter Raum, wie ein Klassenzimmer, voller Regalreihen, und überall, wo man auch hinsieht, stehen weiße Tierschädel. Der Anblick passt nicht zu einem Bibliotheksmagazin, ich muss sofort an einen Friedhof denken. Grabeskälte und Stille erfüllen den Raum.
»Na großartig«, sage ich. »Das dauert ja Jahre, bis ich die alle gelesen habe!«
»Sie brauchen sie gar nicht alle zu lesen«, sagt sie. »Nur so viele Sie können. Wenn welche übrig bleiben, liest sie eben der nächste Traumleser. Die alten Träume schlummern bis dahin weiter.«
»Und dem nächsten Traumleser helfen Sie dann auch wieder?«
»Nein, ich darf nur Ihnen helfen. Das ist so vorgeschrieben. Eine Bibliothekarin kann jeweils nur einem Traumleser zur Hand gehen. Das heißt, wenn Sie aufhören sollten, Träume zu lesen, werde auch ich diese Bibliothek verlassen.«
Ich nicke. Warum, weiß ich nicht, aber es ist vollkommen selbstverständlich für mich, es könnte gar nicht anders sein. Wir lehnen uns eine Weile an die Wand und betrachten die Reihen weißer Schädel auf den Regalen.
»Sind Sie schon mal an dem See im Süden der Stadt gewesen?«, frage ich sie beiläufig.
»Ja, aber das ist schon ewig her. Als ich klein war, hat meine Mutter mich mal mitgenommen. Normale Leute gehen da nicht hin, aber meine Mutter war anders. – Wie kommen Sie darauf?«
»Ich möchte ihn mir mal ansehen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Der See ist gefährlich, gefährlicher, als Sie glauben. Außerdem dürfen Sie gar nicht dahin. Es gibt auch keinen Grund dazu, vollkommen uninteressant, der See. Weshalb wollen Sie denn überhaupt hin?«
»Ich möchte die Gegend hier ein bisschen kennen lernen.Von einem Ende zum anderen. Und wenn Sie mich nicht herumführen wollen, gehe ich eben alleine.«
Sie sieht mich eine Weile an, gibt aber schließlich mit einem kleinen Seufzer nach: »Na gut. Sie scheinen sowieso nicht auf das zu hören, was man Ihnen sagt, und ich kann Sie auf keinen Fall alleine gehen lassen. Aber merken Sie sich eines gut: Ich
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