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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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eigener Kraft nicht lösen konnte. Ich brauchte jemanden, mit dem ich mich ernsthaft darüber unterhalten konnte.
    Ich war im Auftrag eines Wissenschaftlers in dessen unterirdischem Labor gewesen und hatte Daten verarbeitet. Bei dieser Gelegenheit hatte ich einen Tierschädel, anscheinend den eines Einhorns, bekommen und nach Hause mitgenommen. Etwas später hatte ein offenbar von den Semioten gekaufter Gasmann versucht, mir diesen Schädel zu stehlen. Am Morgen darauf hatte ich ein Telefonat von der Enkelin meines Auftraggebers erhalten, die mitteilte, dass ihr Großvater von den Schwärzlingen überfallen worden sei und um Hilfe bat. Ich hatte mich eilends zu dem vereinbarten Treffpunkt aufgemacht, doch das Mädchen war nicht aufgetaucht. Offenbar war ich im Besitz zweier wertvoller Gegenstände. Das eine war der Schädel, das andere waren die geshuffelten Daten. Beide hatte ich an der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof Shinjuku aufgegeben.
    Eine Ungereimtheit nach der anderen. Ich brauchte einen Tipp, egal von wem. Sonst würde ich ewig mit dem Schädel unter dem Arm weglaufen, ohne je zu wissen, was eigentlich Sache war.
    Ich hatte mein Bier ausgetrunken und den Kartoffelsalat verzehrt und verschnaufte gerade einen Augenblick, als die Stahltür mit einem explosionsartigen Knall nach innen fiel und ein Riese von einem Mann, wie ich noch nie einen gesehen hatte, die Wohnung betrat. Er trug ein grellbuntes Hawaiihemd, khakifarbene, hier und da ölverschmierte Militärhosen und weiße Tennisschuhe, die so groß waren wie Taucherflossen. Sein Kopf war kurz geschoren, seine Nase gedrungen und sein Hals so stämmig wie bei einem normalen Menschen der Rumpf. Seine Lider waren dick wie schweres, graues Metall, bei seinen schläfrig blickenden Augen stach unangenehm das Weiße hervor. Sie wirkten fast wie Glasaugen, aber bei genauem Hinsehen erkannte man, dass das Schwarze sich ab und zu flüchtig bewegte, dass es also echte Augen waren. Der Mann war bestimmt eins fünfundneunzig. Er war breitschultrig, und das riesige Hawaiihemd, ein halbes Bettlaken, spannte um die Brust, dass die Knöpfe abspringen wollten.
    Der Riese besah sich kurz die Tür, die er zerstört hatte, wie ich mir den Korken einer Flasche Wein besehe, die ich geöffnet habe; dann kam er auf mich zu. Kompliziertere Gefühle schien er mir gegenüber nicht zu hegen. Er sah mich an wie einen Einrichtungsgegenstand. Und nichts wäre mir lieber gewesen, als einer zu sein.
    Als der Riese zur Seite trat, gewahrte ich hinter ihm einen kleinwüchsigen Mann. Er war unter eins fünfzig, dünn, hatte regelmäßige Gesichtszüge. Er trug ein pastellblaues Poloshirt von Lacoste, beige Leinenhosen und hellbraune Lederschuhe. Wahrscheinlich hatte er die Sachen in einem Luxusgeschäft für Kinderbekleidung erstanden. An seinem Handgelenk blitzte eine goldene Rolex; sie wirkte überdimensional groß, in der Art der Funkgeräte, wie sie die Leute in Star Trek am Handgelenk tragen: Rolex für Kinder gibt es ja nicht. Der Mann war Ende dreißig, Anfang vierzig. Wenn er zwanzig Zentimeter größer gewesen wäre, hätte er als zweitklassiger Fernsehschauspieler durchgehen können.
    Der Riese stapfte, ohne sich groß die Schuhe auszuziehen, in die Küche, ging um den Tisch herum und zog den Stuhl mir gegenüber ein Stück vor. Worauf der Knirps herbeischlenderte und sich setzte. Der Riese lehnte sich an die Spüle, verschränkte seine oberschenkeldicken Arme vor der Brust und richtete seinen stumpfen Blick auf meinen Rücken, in Nierenhöhe. Ich hätte doch lieber über die Feuerleiter verschwinden sollen. Mein Urteilsvermögen musste falsch gepolt sein. Ich sollte mal in die Werkstatt, mir unter die Haube schauen und die Schrauben nachziehen lassen.
    Der Knirps sah mich nicht richtig an und grüßte auch nicht. Er zog eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche und legte beides auf den Tisch. Benson & Hedges und ein goldenes Dupont. Die Sache mit den Einfuhrbeschränkungen musste eine vom Ausland zusammengesponnene Erfindung sein. Der Mann nahm das Feuerzeug zwischen zwei Finger und wirbelte es geschickt herum. Eine Zirkusnummer, Privatvorstellung, wenn ich mich natürlich auch nicht erinnern konnte, eine bestellt zu haben.
    Ich tappte auf dem Kühlschrank nach dem Budweiser-Aschenbecher, den ich irgendwann mal von meinem Getränkehändler bekommen hatte, wischte mit der Hand den Staub ab und stellte ihn dem Knirps hin. Er zündete sich mit einem kurzen, schönen

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