Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
hatte, und erklärte ihr, wo er lag. »Warte drinnen an der Kaffeebar. Spätestens halb sechs bin ich da.«
»Ich hab furchtbare Angst. Was –«
Der Ton war wieder weg. Ich schrie wiederholt in die Muschel, aber es kam keine Antwort. Wie der Rauch aus einer Pistolenmündung stieg Schweigen aus dem Hörer. Das Tonfeld war gestört. Ich legte auf, entledigte mich meines Schlafanzuges und zog ein Sweatshirt und Baumwollhosen an. Dann ging ich ins Bad, rasierte mich schnell trocken, wusch mir das Gesicht und glättete mir vor dem Spiegel mit Wasser das Haar. Mir fehlte Schlaf; mein Gesicht war aufgedunsen wie ein billiger Käsekuchen. Was ich wollte, war ausschlafen. Ausschlafen, fit werden und ein stinknormales Leben führen. Warum zum Teufel ließ man mich nicht in Ruhe? Einhörner, Schwärzlinge, was hatte ich denn damit zu tun?
Ich streifte mir einen Nylonblouson über das Sweatshirt und steckte mein Portemonnaie, Kleingeld und das Messer ein. Nach kurzem Zögern wickelte ich den Einhornschädel in zwei Badetücher und verstaute ihn mit der Zange in einer Sporttasche, in die ich außerdem die Sicherheitstasche mit den geshuffelten Daten schmiss. Meine Wohnung war ohne Frage nicht mehr sicher. Für die Tür und das Tresorschloss würde ein Profi nicht mehr Zeit benötigen, als man braucht, um ein Taschentuch auszuwaschen.
Ich zog die Tennisschuhe an, von denen ich letztendlich nur einen gesäubert hatte, griff mir die Sporttasche und verließ die Wohnung. Im Korridor war niemand. Ich verzichtete auf den Fahrstuhl und nahm die Treppe. Es war noch vor Morgengrauen, im Haus herrschte Totenstille. In der Tiefgarage war auch niemand zu sehen.
Irgendetwas war nicht in Ordnung. Es war zu still. Wenn man derart scharf auf den Schädel war, hätte man doch wenigstens einen Mann zur Bewachung abstellen müssen. Aber nichts, niemand. Als hätte man mich vergessen.
Ich schloss den Wagen auf, warf die Tasche auf den Beifahrersitz und ließ den Motor an. Es war kurz vor fünf. Mich aufmerksam umschauend fuhr ich aus der Garage, dann Richtung Aoyama. Es herrschte kaum Verkehr, außer Taxis, die zum Schichtwechsel eilten, und Nachtlastern war niemand unterwegs. Ab und zu schaute ich in den Rückspiegel, aber man folgte mir nicht.
Alles ging merkwürdig reibungslos. Ich weiß, wie die Semioten vorgehen. Wenn sie ein Ziel haben, verfolgen sie es ohne Rücksicht auf Verluste. Einen lahmen Gasmann anwerben, die Person, auf die sie es abgesehen haben, nicht beschatten – solche Halbheiten unterliefen denen nicht. Die Semioten entschieden sich immer für das rascheste und präziseste Verfahren und führten es knallhart durch. Vor zwei Jahren hatten sie einmal fünf Kalkulatoren geschnappt und ihnen mit Elektrosägen die Schädel aufgesägt. Sie nahmen, um die Daten in frischem Zustand zu extrahieren, die Hirne heraus. Der Versuch schlug fehl, und die schädeldecken- und hirnlosen Leichen der fünf Männer trieben schließlich in der Bucht von Tokyo. So gingen die Semioten vor. Irgendetwas stimmte nicht.
Als ich den Wagen auf dem Parkplatz des Supermarktes abstellte, war es 5 Uhr 28, kurz vor der verabredeten Zeit. Der Himmel über Tokyo hatte sich ein kleines bisschen aufgehellt. Mit der Sporttasche in der Hand betrat ich das Geschäft. In dem großen Verkaufsraum war kaum eine Menschenseele zu sehen; an der Kasse saß in gestreifter Uniform ein junger Angestellter und las eins der zum Verkauf bestimmten Wochenmagazine. Eine Frau unbestimmten Alters und unbestimmter Profession schob einen turmhoch mit Konservendosen und Instant-Lebensmitteln beladenen Einkaufswagen durch die Gänge. Hinter der Spirituosenabteilung bog ich ab zur Kaffeebar.
Die zwölf Hocker an der Theke standen verwaist. Ich setzte mich ganz ans Ende der Reihe und bestellte eine kalte Milch und Sandwiches. Die Milch war so kalt, dass ich sie nicht schmecken konnte, die Sandwiches waren von der vorgefertigten, in Folie eingeschweißten Sorte, die Scheiben feucht und pappig. Ich aß sehr langsam, kaute Bissen für Bissen und trank in kleinen Schlucken die Milch dazu. Eine Weile vertrieb ich mir die Zeit mit der Betrachtung eines Werbeplakates für Frankfurt. Auf dem Bild war es Herbst, die Bäume und Sträucher am Fluss trugen rotes Laub, ein alter Mann in einem schwarzen Mantel und mit Sportmütze fütterte die Schwäne auf dem Fluss. Eine prächtige alte Steinbrücke war zu sehen, im Hintergrund ragte der Turm des Domes auf. Auf den Bänken am Ufer saßen
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