Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
viele Leute. Alle trugen Mäntel, viele von den Frauen hatten Schals umgebunden. Ein schönes Foto, aber mich fröstelte allein beim Hinschauen. Ein bisschen vielleicht, weil der Herbst in Frankfurt kalt zu sein schien, aber beim Anblick hoher, spitzer Türme wird mir immer kalt.
Dann sah ich mir die an der gegenüberliegenden Wand hängende Zigarettenwerbung an. Ein glattgesichtiger junger Mann, zwischen den Fingern eine brennende Filterzigarette, schaute schräg nach vorne ins Weite. Wie schaffen es die Zigarettenmodels bloß, immer diesen »Ich-sehe-nichts-ich-denke-nichts«-Ausdruck in die Augen zu kriegen?
Während ich auf diese Weise die verschiedenen Plakate im Supermarkt betrachtete, wurde es sechs Uhr. Die Enkelin des Professors tauchte immer noch nicht auf. Mir war nicht klar, warum sie sich dermaßen verspätete. Sie war es schließlich gewesen, die mich gebeten hatte, möglichst rasch zu kommen. Mit Nachdenken war dieser Frage allerdings nicht beizukommen. Ich war möglichst rasch hergekommen. Alles andere war ihr Problem. Und zwar eines, mit dem ich im Grunde überhaupt nichts zu tun hatte.
Ich bestellte eine Tasse Kaffee; ich trank sie langsam, ohne die Milch und den Zucker einzurühren.
Nach sechs nahm die Zahl der Kunden allmählich zu. Es kamen Hausfrauen, die Toastbrot und Milch fürs Frühstück einkauften, es kamen Studenten, die die Nacht durchgemacht hatten und sich etwas zu essen besorgen wollten. Eine junge Frau kaufte Toilettenpapier, ein Büroangestellter drei Tageszeitungen. Zwei Männer mittleren Alters mit geschulterter Golfausrüstung deckten sich mit Flachmännern ein.
Ich wartete bis halb sieben, aber das Mädchen tauchte nicht auf. Ich verließ den Supermarkt, stieg in meinen Wagen und fuhr zum Bahnhof Shinjuku. Ich parkte in der Tiefgarage, ging zur temporären Gepäckaufbewahrung und gab meine Sporttasche auf. Ich bat um vorsichtige Handhabung, da die Tasche Zerbrechliches enthalte; der Schalterbeamte befestigte am Griff ein rotes Schildchen, das ein Cocktailglas zeigte: FRAGILE. Ich vergewisserte mich, dass meine blaue Nike-Tasche auf dem Regal landete, wo sie hingehörte, und nahm dann den Aufbewahrungsschein in Empfang. Dann kaufte ich an einem Kiosk einen Briefumschlag und für 260 Yen Briefmarken, steckte den Schein in den Umschlag, versiegelte ihn, klebte die Marken auf, adressierte ihn an ein geheimes privates Postfach, das ich mir unter einem fiktiven Firmennamen zugelegt hatte, und warf ihn in den nächsten Briefkasten. Damit waren die Sachen, es sei denn, es passierte etwas wirklich Außergewöhnliches, erst einmal sicher. Eine Maßnahme, die ich aus Vorsichtsgründen hin und wieder ergriff.
Nachdem ich den Brief eingeworfen hatte, fuhr ich nach Hause. Bei dem Gedanken, dass ich nichts mehr hatte, was mir gestohlen werden könnte, wurde mir leicht ums Herz. Ich parkte den Wagen in der Tiefgarage, nahm die Treppe zu meiner Wohnung, duschte, kroch ins Bett und schlief tief und fest ein, als wäre nichts gewesen.
Man kam um elf Uhr. Besonders erstaunt war ich nicht, denn nach dem, wie die Sache verlaufen war, hatte ich mir gedacht, dass langsam jemand auftauchen würde. Allerdings klingelte dieser Jemand nicht, sondern rammte gleich die Wohnungstür ein. Und zwar auf eine Weise, die kaum als einfaches Rammen zu bezeichnen war: Der Boden bebte, als würde eine Abrissbirne gegen die Tür gewuchtet. Schrecklich. Wer über so viel Kraft verfügte, hätte doch dem Hausmeister einen Passepartout entlocken können. Was mir, da keine Reparaturkosten für die Tür angefallen wären, zustatten gekommen wäre. Und bei dem Krach, der veranstaltet wurde, lief ich Gefahr, hinterher aus der Wohnung geworfen zu werden.
Während dieser Jemand dabei war, die Tür einzurammen, zog ich mir Hosen an, streifte das Sweatshirt über, steckte mir das Messer hinten in den Gürtel und ging aufs Klo, pinkeln. Dann öffnete ich vorsichtshalber den Tresor, stellte am Tonbandgerät die Notautomatik ein und holte mir, als das Band zerstört war, aus dem Kühlschrank ein Bier und ein Schälchen Kartoffelsalat als Mittagessenersatz. Vom Balkon aus führte eine Feuerleiter nach unten, sodass ich durchaus hätte fliehen können, aber ich war total erschöpft; wegzulaufen war mir zu aufwendig. Außerdem hätte es keines der Probleme, mit denen ich konfrontiert war, gelöst. Ich war mit äußerst lästigen Problemen konfrontiert – beziehungsweise in solche verwickelt worden –, Probleme, die ich aus
Weitere Kostenlose Bücher