Harlekins Mond
erst überrascht und dann wütend drein, und als er nach der Waffe griff, um sie sich zurückzuholen, fuhr sie ihn an: »Du wirst noch dafür sorgen, dass sie uns alle umbringen. Ist es das, was du willst?« Vielleicht gab es irgendeinen anderen Weg, selbst jetzt noch. Nur welchen?
Rachel hörte, wie Türangeln knarrten, wie sich mit einem metallischen Schaben die Aufzugstür öffnete; sie wandte sich um. Es war Liren! Liren blickte rasch umher, dann hob sie den Arm und richtete ihre Waffe direkt auf Andrew; ihr Gesichtsausdruck war seelenruhig und milde, fast zufrieden.
Andrew zielte seinerseits auf Liren. Seine Hand zitterte, doch er stand nur viereinhalb Meter von ihr entfernt.
»Nein!«, schrie Rachel. Sie trat zwischen die beiden und erstarrte dann, als ihr einfiel, dass Liren bereits auf sie geschossen hatte.
»Rachel« – Lirens Stimme klang unglaublich ruhig – »Geh mir aus dem Weg, Rachel! Es würde mir nicht das Geringste ausmachen, dich zu erschießen.« Liren kam einen Schritt auf sie zu.
Zorn durchfuhr Rachel, sie rief: »Zurück!« und meinte damit sowohl Liren als auch Andrew. »Lasst das!« Andrew versuchte von hinten, sie aus dem Weg zu schieben, und sie lehnte sich zurück, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er stieß sie zur Seite, versuchte, freie Schusslinie auf Liren zu bekommen.
In ihrer Hand spürte Rachel das ungewohnte Gewicht der Waffe, die sie Justin abgenommen hatte. Worauf zum Teufel war sie eingestellt?
Andrews Augen waren hart und schwarz, und ihr Blick war unverwandt auf Liren gerichtet. Er war nahe genug bei ihr, um sie nicht zu verfehlen.
Untertan flüsterte in ihrem Ohr: »Du musst dich für eine Seite entscheiden, und zwar jetzt.«
Beide Entscheidungen waren undenkbar. Sie hätte am liebsten Liren erschossen.
Rachel beugte ihren Arm und hob die Waffe. Sie feuerte. Sie sah, wie vier blauweiß funkelnde Sterne unter Andrews Hemd aufflammten, viel zu dicht am Herzen.
KAPITEL 70
EXODUS
Gabriel drängte sich an zwei Ratsmännern vorbei, die einen gefangenen Mondgeborenen durch die Tür im Erdgeschoss herausschafften, er rannte die Stufen hinauf und stürmte durch die offene Tür aufs Dach. Er fuhr zusammen, als er das leise Geräusch hörte, das beim Abfeuern einer Waffe entstand. Wo …? Er wandte sich rechtzeitig um, um zu sehen, wie Andrew nach hinten flog. Andrew zuckte heftig, dann wurde er schlaff. Vier Funken flammten an einer weit entfernten Wand auf.
Liren und Rachel standen drei Meter voneinander entfernt. Liren stand der Mund offen, und sie sah schockiert aus; ihre Waffe richtete sich auf Rachel.
Zuerst Liren! Gabriel warf sich gegen sie, stieß sie zur Seite und nahm ihr dabei die Waffe ab. Er hörte Rachel rufen und duckte sich. Eine Nadel knallte über ihm in die Türfüllung. Gabriel blickte sich um. Justins Hand zitterte, als er an der Waffe herumfummelte, um sie erneut schussbereit zu machen.
Rachel wandte sich Justin zu, hob ihrerseits den Arm und richtete die Waffe auf Justin. Dann warf sie sie fort, senkte den Kopf und rannte auf Justin zu, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und zu verhindern, dass er erneut auf Gabriel feuerte. Sie und ihr Halbbruder fielen in einem sich windenden Haufen aus Gliedmaßen auf das Dach.
Ali kam durch die Tür gestürzt, schrie Gabriels Namen und blieb wie angewurzelt stehen. Die Sonne glänzte auf ihrer eigenen Waffe. Der Schrei erstarb ihr auf den Lippen. Ihr Blick erfasste erst Dylans reglose Gestalt, dann die von Andrew und blieb schließlich an Rachel hängen, die über Justin lag und seine Waffe mit dem Fuß beiseite stieß.
Rachel blickte zu Ali auf. Zorn und Schock, Adrenalin und Angst verzerrten ihr Gesicht zu einer Maske des Wahnsinns.
Gabriel stand zwischen Rachel und Liren, als Liren auf die Beine kam. Unbewaffnet stand sie da und funkelte erst Rachel erbost an, dann Gabriel. Sie kam wieder auf Rachel zu. Als sie an Gabriel vorbeiwollte, packte er sie und warf sie zu Boden. »Nein!«
Liren stotterte, stierte Gabriel wütend an und setzte dazu an, sich aufzurappeln.
Gabriel hatte Mühe, Alis Gesichtsausdruck zu deuten: Er sah Schock, Erleichterung, mühsam unterdrückte Energie.
Justin beobachtete sie alle aufmerksam vom Boden aus. Sein Blick war wild. Er rührte sich nicht. Er sagte: »Du hast ihn erschossen.« Rachel stand reglos da und blinzelte in die Sonne, während Justins Worte sie wie Kugeln trafen. »Du hast Andrew umgebracht, um eine von denen zu retten!«
Gabriel
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