Harlekins Mond
– wie geht es Beth?«, fragte Rachel. »Und Sarah?«
Woher sollte er das wissen? »Erika, kannst du überprüfen, wie es Beth und den anderen geht?«
»D-danke. Das ist gut.« Rachels Stimme war so leise, dass er sie kaum hören konnte.
Was war gut? Er hatte ihr doch überhaupt nichts gesagt. »Wir müssen bald gehen. Der Strahlungssturm des Jahrhunderts ist hierher unterwegs.«
Er wartete darauf, dass sie sich bewegte, suchte nach seiner eigenen Mitte und atmete ruhig. Er passte seine Atmung an Rachels schnelleren Rhythmus an, dann verlangsamte er seinen eigenen, und ihrer folgte langsam aber sicher.
Rachel brauchte fast fünf Minuten, um sich von ihm zu lösen und einen Schritt zurückzutreten. Der Schmerz in ihren Augen ließ Gabriel innerlich zusammenzucken; er nahm ihre Hand. »Wir müssen gehen«, flüsterte er ihr zu.
Sie folgte ihm zur Tür, ließ sich von ihm mit seinem Körper abschirmen.
Auf der Straße herrschte aufgeregtes Durcheinander. Ein Strom von Leuten bewegte sich in Richtung Lastenaufzug, der den Hang des Kraters hinauffuhr. Andere legten ihre Schwingen an.
Die übrig gebliebenen Verschwörer standen nebeneinander vor dem Lagerhaus auf der anderen Straßenseite: Justin, Sam und vier weitere, die Gabriel nicht kannte. Man hatte ihnen die Hände hinter dem Rücken fixiert. Shane hatte sich vor ihnen aufgebaut; sein Gesicht war zornig, die Haltung beherrscht. Er warf einen Blick zu Gabriel und Rachel herüber. »Soll ich sie auch mitnehmen?«
Gabriel schüttelte den Kopf. »Rachel bleibt bei mir.«
Ali trat zu ihnen. Mit fragendem Gesichtsausdruck wies sie auf das Schiff, mit dem sie gelandet waren.
Gabriel schüttelte den Kopf. Rachel würde die Nähe ihrer Leute brauchen, und er musste dringend einige Dinge von ihr erfahren. »Wir werden die Zuflucht aufsuchen.«
Mitglieder des Rates trugen einen der ihren – denjenigen, der bei der Erstürmung des Gebäudes betäubt worden war – in Richtung Landefeld. Andere folgten ihnen mit Sheilas Leichnam. Liren ging mit ihnen, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen, noch immer mit hängenden Schultern. Ein Flugzeug hatte bereits abgehoben und befand sich auf dem Weg zur John Glenn.
Ali streckte Rachel ihre Hand hin, die sie ergriff, ohne den Schutz von Gabriels Armen zu verlassen. So gingen sie weiter, Gabriel mit dem Arm um Rachels Schulter, Ali mit Rachels anderer Hand in der ihren.
Ein Durcheinander aus Ratsmitgliedern, Erdgeborenen und Mondkindern hatte sich auf der Aufzugsplattform zusammengedrängt. Der breite Versorgungsaufzug war in der Lage, 100 Leute gleichzeitig zu befördern, wenn sie dicht beieinanderstanden. Er schwang hin und her und rumpelte die lange Steigung hinauf; seine menschliche Fracht war durch eine hüfthohe Metallbrüstung gesichert. Gabriel hielt Rachel dicht bei sich, während er hinaus über Camp Clarke blickte. Das Licht schien so hell, dass er die Augen abschirmen musste. Die ersten Teile der Beschleunigerkonstruktion waren nicht zu übersehen: Stützstreben, die über Hunderte Meter errichtet waren, und zwei Segmente der Röhre, die – noch nicht miteinander verbunden -in der Mitte zwischen den Stützen ruhten. Ein paar Federwolken wanderten hoch oben über den strahlend blauen Himmel. Zwischen den Felsen unterhalb des Aufzugs summten Insekten.
25 Minuten später standen sie gemeinsam auf der Plattform oberhalb der Anlegestelle, die von der Flut auf ihrem Höchststand emporgehoben worden war. Die Safe Harbor näherte sich; sie kehrte leer von einer Fahrt zur Zuflucht zurück. Der Tag wirkte so normal – so irdisch, trotz Harlekin, der hoch am Himmel leuchtete, ganz in rot, orange und weiß. Als sie die Rampe hinunter- und an Bord des Schiffes gingen, schüttelte Gabriel den Kopf. Was war schiefgegangen? Wie sollten die nächsten Schritte aussehen? Was ließ sich noch retten?
Sie kamen an John und Treesa vorbei, die den steten Menschenstrom auf das Schiff lotsten. John drückte Gabriel kurz an sich, legte einen Arm um Rachel und bezog sie in die Umarmung mit ein. »Ich bin froh, dass du okay bist. Ich muss gehen … wartet ihr in der Ratsküche auf mich? Es wird eine Weile dauern. Ich weiß noch nicht, ob ich eine oder zwei Fahrten brauchen werde, um alle rüberzubringen.«
»Wir werden da sein«, erwiderte Gabriel, ungeheuer froh, seinen Freund zu sehen.
Treesa beugte sich herüber und gab Rachel einen Kuss auf die Wange; sie lächelte traurig und flüsterte: »Du hast getan, was du tun musstest.
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