Harlekins Mond
auszureden.«
Liren hätte Andrews Gesicht gern deutlicher gesehen. Er befand sich offensichtlich in der Hocke; zwar konnte sie seine Hände nicht sehen, doch seine Schultern waren entspannt, und er schien bereit zu reden, aufzupassen und sich, falls nötig, tiefer zu ducken. Er wirkte nicht besonders gefährlich. Sie machte einen weiteren Schritt.
»Wenn Sie noch näher kommen, werden wir schießen.«
Unwillkürlich entfleuchte Lirens Kehle ein Auflachen. Sie kam sich vor, als beobachtete sie dies alles von der John Glenn aus; nicht von hier aus, nicht, während sie selbst im Mittelpunkt des Geschehens stand. Andrew wollte auf Mitglieder des Rates schießen? »Du kannst hier nicht gewinnen. Sieh dich doch nur mal um! Sieh dir an, wie viele von uns hier sind. Du würdest sterben.«
»Aber ein paar von euch ebenfalls.«
»Wir sehen im Töten keine erstrebenswerte Lösung. Ich würde vorschlagen, dass ihr ebenfalls davon Abstand nehmt.« Liren wich nicht zurück, ließ jedoch die linke Hand heruntersinken. »Was bezweckt ihr überhaupt mit alldem?«, fragte sie, auf seltsame Weise neugierig. Nicht, dass es wirklich eine Rolle spielte. Die Mondgeborenen würden nicht bekommen, was sie wollten. Liren kam sich vor wie in einer Theateraufführung, in der die anderen Schauspieler den falschen Text sprachen.
Andrews Stimme zitterte ein wenig. »Wir wollen dass ihr verschwindet. Dass ihr euren Antimateriegenerator irgendwo anders baut.« Er stand auf und zeigte sich ihr in voller Größe. Er war hochgewachsen; die Datenfenster auf dem Schiff hatten sie nicht darauf vorbereitet, wie groß die Mondgeborenen waren. Seine Muskeln waren gut definiert, wenn auch drahtig und dünn von der geringen Schwerkraft; im Stehen wirkte er zugleich imposant und barbarisch. Seine Stimme klang tief und beständig, als er ihr zurief: »Hört auf, uns vorzuschreiben, wie wir leben und was wir tun sollen!«
»Ohne uns werdet ihr wahrscheinlich nicht lange leben.«
»Leben, mit einem Antimateriekollektor? Weib, du bist ja verrückt! Mit einem Teelöffel von diesem Zeug könnte man diesen ganzen Mond in die Luft jagen.«
»Oh, das könnte man nicht!« Dieser Mann stellte nur seine Unwissenheit unter Beweis. Ein Teelöffel würde nicht einmal ausreichen, um Aldrin zu zerstören … nun, er würde ausreichen, um Aldrin zu zerstören, möglicherweise, oder um den Kraterwall, der das Meer der Zuflucht umgab, zu zersprengen. Wie viel hatte Rachel ihm erzählt? Es konnte niemand außer Rachel gewesen sein. »Andrew, wir benutzen Antimaterie seit … nun, seit 60.000 Jahren, aber die Technologie war bereits Hunderte von Jahren alt, als wir die Erde verlassen haben!«
Andrew stand nachdenklich da … Aufgebaut wie eine Zielscheibe, dachte Liren. Mit einem Gewehr hätte ihn jeder Anfänger erledigen können. Ihre eigene Pistole .,. besaß nicht die nötige Reichweite.
Unvermittelt lachte er auf. »Na schön, Ma Liren; machen Sie mir etwas Antimaterie und lassen Sie sie irgendwo, wo ich sie in die Hände bekommen kann.«
»Was?!« Das war ein bestürzender Gedanke! Liren musste eine Schreckensvision verdrängen. »Du wüsstest doch gar nicht, wie man damit –«
»Ich bin durchaus imstande zu lernen.«
»Um dein eigenes Zuhause in die Luft zu sprengen? Nun, nicht mit einem Teelöffel, aber –«
»Was würde ein Teelöffel Antimaterie auf Ihrem Trägerraumschiff anrichten?«
»Du würdest damit niemals auch nur bis in unsere Nähe kommen.« Wieso ließ sie sich mit diesem Rebellen überhaupt auf eine Diskussion ein? Liren richtete sich hoch auf. »Komm herunter. Auf der Stelle!«
Andrew rührte sich weder, noch reagierte er überhaupt, und Liren vernahm auch kein Anzeichen einer Bewegung der Leute hinter ihr. Alles war still. Das Licht des frühen Nachmittags schien auf die Szenerie, es zeichnete die Konturen des Gebäudes schärfer und ließ eine Narbe an Andrews Arm deutlich hervortreten.
Mit einem Knall flog die Liren am nächsten gelegene Tür auf, Star kam herausgestürzt und sprang zur Seite, wie um zu vermeiden, dass man sie von hinten ins Visier nahm. Dann rannte sie hakenschlagend los, und eine Hand schob sich hinter ihr aus der Tür und feuerte drei Schüsse ab. Liren sah, dass die Funken Star verfehlten, doch sie hörte, wie hinter ihr jemand fiel. »Jemand verletzt?«, rief sie nach hinten, ohne sich umzudrehen.
Shanes Stimme antwortete: »Es ist Thomas. Er ist bewusstlos.«
Demnach war die Waffe nur auf Betäubung eingestellt
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