Harlekins Mond
Sonnenlicht darauf fiel, löste er sich langsam auf. Gabriel versuchte, mehr Geschwindigkeit aus sich herauszuholen, atmete schwer und roch das frische Wasser in dem Wind, der vom Meer der Zuflucht her den Krater heraufwehte. Er konzentrierte sich auf jedes Aufsetzen seiner Füße, bis er schließlich nur noch Läufer war; ein Mann, der an einem schönen Morgen seine Kräfte erprobte.
Zufriedenheit durchflutete seinen Körper, ein Ausgerichtetsein auf ein einziges Ziel. Dann eine Welle von Traurigkeit, das tiefe Empfinden eines Verlustes. Es wuchs, machte ihn langsamer, hing wie ein Gewicht an seinen Füßen. Er versuchte, hindurchzulaufen, es hinter sich zurückzulassen. Er stolperte und fing seinen Sturz mit den Händen ab, erhob sich wieder und rannte weiter; obwohl die Sonne schien und unter ihm auf dem Wasser glitzerte, war ihm, als laufe er durch dichten Nebel.
Er stolperte erneut, und diesmal blieb er am Boden, fühlte den rauen Schotter unter seinen Knien. Der Wind wehte ihm gegen die Wange und kühlte den Schweiß auf seinem Rücken. Gabriel spürte Selene unter sich. Er stellte sich eine Linie vor, die von seinem Herzen aus den ganzen Weg durch die pochende Maschinerie hindurch verlief, die das Meer der Zuflucht in Gang hielt … die sich weiter entlang der Felder erstreckte, fort von Camp Clarke, und dem Lauf des Wassers in den Aquädukten folgte. Ein Netz seiner Energie umgab den Mond, umgab ihn selbst, beide miteinander verschlungen. Sein Zuhause. Zu seiner Überraschung fielen heiße Tränen auf den Erdboden unter ihm. Er weinte doch sonst nie! Es war ein wunderbares Gefühl zu sehen, wie seine Tränen im Erdreich verschwanden.
Gabriel lief langsamer zurück, als er gekommen war, und legte den letzten Kilometer in einem schnellen Schritttempo zurück. Dann duschte er rasch, ließ sich das Wasser auf den Rücken prasseln wie einen Weckruf, der ihn aus dem klebrigen und traurigen Gefühl herausholte, das ihn so eng umschlungen gehalten hatte. Was hatte er verloren? Ymir? Rachel hatte es als einen Wunschtraum bezeichnet. Er spürte, dass er Ymir hinter sich gelassen hatte, ein Stück Vergangenheit aus einer Erinnerung, die nun entschwunden war.
Die Küche in den Ratshöhen war voll. Rachel, Beth, Harry, Bruce, Ali, John und Treesa sowie zwei weitere Erdgeborene, Bear und Nadine, hatten sich am Tisch versammelt. Gabriel machte drei tiefe Atemzüge, überrascht, dass er wusste, was er sagen musste. Jetzt, noch vor Beginn der Sitzung.
»Captain John und Treesa haben bereits bekannt gegeben, dass sie hier auf Selene bleiben werden. Ich bleibe ebenfalls.« Gabriel war überrascht, dass er selbst jetzt, nachdem er es ausgesprochen hatte, so ruhig blieb. Es war die richtige Entscheidung.
Treesa lächelte leise und zustimmend. »Warum?«
»Ymir ist nicht mehr meine Aufgabe. Entweder existiert dort bereits eine terraformierte Welt, oder wir werden feststellen, dass das Projekt Ymir auch unter Einsatz jedes Werkzeugs, das mir zur Verfügung gestanden hätte, gescheitert ist. Oder vielleicht schafft es die John Glenn auch gar nicht bis dorthin. Das hier – das habe ich erschaffen!« Er breitete die Arme weit aus, deutete durch das Fenster hinaus zum Meer der Zuflucht. »Oder zumindest das meiste davon.« Er fühlte sich leicht, als er hinüberging, um sich neben John zu setzen, gegenüber von Rachel. Er blickte sie offen an. »Ich könnte es nicht ertragen, fortzugehen.«
Rachel warf ihm ein strahlendes Lächeln zu, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Bevor er es mit Sicherheit sagen konnte, wandte sie sich ab, um aus dem Fenster zu schauen, und John und Treesa klopften ihm auf den Rücken und gratulierten ihm.
Er fühlte sich von wunderbarem Frieden erfüllt.
Er hätte am liebsten seine Gitarre zur Hand genommen.
Er hätte am liebsten … »Mal angenommen, wir nähmen Mond Nummer Elf –«
Astronaut hatte die Monde in der Reihenfolge ihrer Entdeckung durchgezählt, was im Groben ihrer Größe entsprach. Nummer Elf war mittlerweile der äußerste von Harlekins Monden. Zwei winzige weiter entfernte Monde waren im Zuge der Erschaffung von Selene in Mond Nummer Eins hineingerammt worden, doch Nummer Elf war zu groß: Sie hätten dabei mehr Masse verstreut als hinzugewonnen.
Nummer Elf war groß genug, und rund genug, um als Standort für eine kleinere Version des Teilchenbeschleunigers zu dienen.
Er war nicht weit genug von Selene entfernt. Nichts innerhalb des Mondesystems war weit genug entfernt.
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