Harlekins Mond
Kraterrands erhob sich jenseits des Meeres – eine unebene dunkle Linie vor einem klaren blauen Himmel.
Alle sahen Rachel an. Gabriels Hand stahl sich zurück in ihre und drückte sie, dann stand er auf und ging zum Fenster, wobei er ihnen den Rücken zukehrte. Worüber dachte er nach? Sie brauchte seine Unterstützung ebenso sehr wie die des Hohen Rates. Er war es, der Selene erschaffen hatte. Er würde doch bestimmt helfen, sie zu beschützen?
Rachel stand zitternd auf. Sie ging hinüber, blieb neben ihm stehen, ohne ihn zu berühren, und schaute hinaus auf das Meer. Apollo war zur Gänze aufgegangen, und Harlekin ebenso. Der Wind kräuselte die Wasseroberfläche zu kleinen Wellen.
Gabriel sagte: »Du hast vom Baum der Erkenntnis gegessen.«
Rachel verstand die Anspielung nicht, doch sie hörte die Zustimmung in seiner Stimme. Das genügte ihr.
Eine Stunde später öffnete der Hohe Rat das Fenster wieder. Erneut war es Erika, die das Wort führte. »Derzeit können wir deinen drei Forderungen nicht nachgeben. Aber wir sind willens, Gespräche aufzunehmen, an denen sämtliche Parteien beteiligt werden. Mondgeborene, Erdgeborene, Räte und Hoher Rat werden gemeinsam eine Arbeitsgruppe ins Leben rufen. Wir werden keinerlei Beschlüsse akzeptieren, die uns daran hindern würden, diesen Ort zu verlassen und zum Ymir aufzubrechen. Die Diskussion wird bestimmten Einschränkungen unterliegen.« Sie lehnte sich vor, und für einen Moment verschwand die anfängliche Härte aus ihrem Blick. »Rachel – du hast mir erklärt, was ihr wollt. Was ich will, mehr als alles andere, und mindestens ebenso sehr wie du dein Zuhause beschützen willst, ist, von hier wegzugehen und mein eigenes zu finden.«
Rachel erwiderte das Lächeln. »Ich verstehe.«
»Wir werden Nominierungen für Mitglieder einer Arbeitsgruppe annehmen.«
Rachel wartete schweigend ab.
»Das schließt die beiden KIs mit ein. Sie werden kein Stimmrecht erhalten, aber sie werden die Gelegenheit bekommen, ihre Standpunkte darzulegen.«
Rachel schloss die Augen und schwankte vor Erleichterung, fühlte sich leicht … Freude wallte in ihr auf, und sobald sich die Datenfenster geschlossen hatten, schrie sie in unbändigem Jubel.
KAPITEL 75
YMIRS ENTSCHWINDEN
Gabriel war beim Aufwachen müde. Er rieb sich die Augen, dehnte sich und erwog einen Dauerlauf, um seinen eigenen Depressionen zuvorzukommen. An diesem Tag würde die dritte Versammlung der Selene-Sonderkommission stattfinden. Ihm blieben bis dahin noch zwei Stunden Zeit. Er orderte eine geringe Dosis eines Stimulanziums und lief zur Tür hinaus.
Kühle feuchte Luft umgab ihn, als er langsam seine Geschwindigkeit steigerte und seinen Körper gut genug aufwärmte, um den Sorgen, die an ihm nagten, davonzusprinten. Auf den ersten beiden Sitzungen hatten sie in erster Linie herausgearbeitet, wie sie ihre Gespräche strukturieren würden. Sie würden die KIs dort belassen, wo sie waren, jedoch jede weitere Lockerung der sie betreffenden Restriktionen strikt ablehnen. Sie würden fortfahren, Komponenten für den Teilchenbeschleuniger herzustellen. Die kultivierten Regionen waren auf Schäden hin überprüft und aufgeräumt worden, und die Bevölkerung von Camp Clarke kehrte zurück, um sich an die Wiederanpflanzung zu machen. Warum also fühlte er sich so rastlos?
Wayne und Astronaut waren auf der Suche nach einem geeigneten Ort für den Bau des Beschleunigers. Na dann viel Vergnügen! Sie benötigten ein Objekt, das groß genug war, um den Beschleuniger drum herum zu legen … nicht so groß wie Selene, aber doch groß. Es gab nichts von dieser Größe auf Harlekins Lagrange-Positionen, und die befanden sich schon 60 Grad vor und hinter Harlekin – so weit entfernt wie Apollo und Dädalus. Wenn sie gezwungen waren, über Entfernungen von Milliarden Kilometern hinweg zu arbeiten und ein weiteres Dutzend Himmelskörper zusammenzumatschen, um etwas Größeres zu erhalten … noch einmal 10.000 Jahre?
Würden sie stattdessen mit KBOs arbeiten müssen?
Würde er überhaupt noch einmal von hier wegkommen? Gabriel steigerte sein Lauftempo. Sein Herz pumpte kräftig genug, um ihm den Atem knapp werden zu lassen. Ymir kam ihm noch immer weit entfernt vor, wie etwas Unwirkliches. Seine Füße traten auf die Oberfläche von Selene, auf dem Rand eines Kraters, den er um ein Meer herum errichtet hatte, das von ihm ins Dasein geträumt worden war. Ein leichter Nebel hing über dem Wasser, und als das
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