Harlekins Mond
hatte. »Ich weiß es nicht. Gabriel hat erwähnt, dass es einige schlimme Eruptionen gegeben hat und dass wir unserer Arbeit auf der Oberfläche nicht hätten nachgehen können, also … also haben sie uns … ganz einfach kalt gelassen.«
»Was ist in der Zwischenzeit passiert?«
»Meine beste Freundin ist tot. Mein Freund ist vertraglich gebunden … und hat eigene Kinder.« Einen Augenblick lang fand sie das furchtbar komisch.
»Über diesen Teil weiß ich Bescheid. Denk daran, wir beobachten viel, und ich mehr als die meisten anderen. Im Augenblick bleibe ich wegen meiner Vögel wach. Ich bin die ganzen 20 Jahre, in denen du eingefroren warst, hier gewesen, und ich habe eine Menge gesehen. Der Hohe Rat hat Veränderungen vorgenommen, von denen ich nicht glaube, dass sie dir gefallen werden. Aber was hat sich dadurch, dass du kalt warst, für dich geändert?«
»Aber … das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.« Worauf wollte diese halbverrückte Frau hinaus? Tatsächlich war sie wohl gar nicht so verrückt. Die 20 Jahre, in denen Rachel kalt gewesen war, hatten Treesa gutgetan.
Treesa schürzte die Lippen. »Versuch es noch einmal. Erzähl mir, wie du dich fühlst.«
Rachel schloss die Augen. »Ich bin wütend. Alles ist irgendwie unwirklich. Wenn ich die Augen geöffnet habe, dann weiß ich, dass es tatsächlich passiert ist – dass all diese Zeit vergangen ist –, aber wenn ich sie schließe, dann muss ich das nicht mehr glauben. Ich stelle mir vor, dass ich sie wieder öffne und das Leben wieder sein wird, wie es vorher war. Aber, Treesa, tatsächlich hätten die mich auch für 1000 Jahre liegen lassen können! Wer hätte sie davon abhalten sollen? Als ich warm geworden bin, wie sollte ich da wissen, dass es nicht so war?« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Die könnten mit mir machen, was immer sie wollen. Ich hasse sie alle!«
»Wen hast du jetzt noch, an den du dich wenden kannst?«, verlangte Treesa zu wissen.
»G-Gabriel.«
»Wer besitzt Macht über dich?« Treesa knackte mit den Knöcheln und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
»Die Räte – aber die hatten sie im Grunde immer. Sie haben schon immer sämtliche Macht gehabt.«
»Dann sag mir Folgendes: Haben sie jetzt mehr Macht oder weniger? Über dich, meine ich.«
»Ich verstehe nicht. Sie haben sämtliche und alle Macht. Ich habe keinerlei Entscheidungsfreiheit, und die eine Wahl, die ich für mich selbst treffen wollte – mit Harry zusammen zu sein -die haben sie mir einfach genommen.«
»Was willst du sonst noch?«, hakte Treesa nach.
»Ich habe immer davon geträumt, zu sein wie die Räte«, gestand Rachel erbittert. »Tatsächlich sogar davon, dass ich einmal eine von ihnen werden würde.« Das war ihr unerreichter Wunschtraum gewesen, solange sie sich zurückerinnern konnte. Immer wenn sie geglaubt hatte, sie sei Gabriel oder Ali oder Kyu näher gekommen, stellte sich heraus, dass diese am Ende gar nicht an sie dachten, außer vielleicht, um weitere Aufgaben für sie zu finden. Oder weil ihr Job es erforderte. Und nun, da sie an etwas teilgehabt hatte, das sonst nur Ratsmitgliedern vorbehalten war? Sie war eingefroren gewesen. War sie den Räten jetzt ähnlicher geworden? Was war mit Gabriel? Gestern Abend hatte er sie in den Armen gehalten, sie aber an diesem Morgen fast nicht beachtet. Je sie älter wurde, desto mehr kam es ihr vor, als wäre er gleichzeitig näher und weiter entfernt.
»Ich möchte, dass sie mich mögen, und ich möchte meine Arbeit gut machen.« Was konnte man sonst noch wollen? Kinder? Harry …
»Was ist mit den Kindern von Selene? Denn zu ihnen gehörst du, weißt du. Wir Übrigen sind Abkömmlinge der Erde. Wir sind nicht besser, nur älter. Nur an einem anderen Ort geboren.« Treesa schwieg eine Weile und suchte nach den richtigen Worten. Als sie erneut sprach, klang ihre Stimme gemessen. »Die Mitglieder des Rates können es sich selbst nicht gestatten, euch zu lieben. Jeder von uns hat Familie und Einfluss zurückgelassen; alle haben für ihr Entkommen einen Preis gezahlt. Sie halten an ihrem Traum fest, und wenn sie hierbleiben, verdammen sie ihre eigenen Kinder dazu, zu sterben. Euch als ihre Kinder anzunehmen – sich einzugestehen, dass ihr ihre Kinder seid – ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Ich sehe einige Leute auf Selene, denen es gelingt, diesen inneren Zwiespalt auszutarieren, aber niemanden hier oben. Liren kämpft mit allen Mitteln dagegen an; sie sorgt dafür,
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