Harlekins Mond
bestimmte Gabriel.
»Ich habe keine Möglichkeit, die Uhrzeit festzustellen.« Wieso ließ er den Captain nicht sitzen und redete mit ihr? Wusste er denn nicht, dass sie bei ihm sein wollte? Dass sie ihn brauchte?
Gabriel reichte ihr ein Armbandgerät.
Es unterschied sich von jenem, das sie dem medizinischen Personal ausgehändigt hatte, es war kleiner und leichter. Es reagierte auf ihre Berührung und auf ihre Stimme, und natürlich konnte man die Zeit ablesen. Sie sah Gabriel an.
»Ein verbessertes Modell«, sagte er. »Der Zugang zu Selene ist vorläufig gesperrt.«
Rachel biss die Zähne zusammen, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Mit drei tiefen Atemzügen zwang sie sich zur Ruhe. Dabei durfte es nicht bleiben.
»Die Bibliothek?«, fragte sie drängend. »Bitte!?«
Ein Läuten erklang in ihrem Ohr. Sie fragte nach der Zeit. Die Stimme der Bibliothek antwortete ihr. Jetzt war sie wieder voll funktionstüchtig. Beinahe. Sie war immer noch eine Gefangene auf dem Schiff. Sie konnte nicht zu Hause anrufen, nicht heimkehren oder ihr Zuhause auch nur sehen.
Rachel verließ die Cafeteria. Draußen schlug sie den Weg zurück zu Yggdrasil und dem Achterzugang ein. Dann hielt sie inne. Sie wollte nicht zurück in ihr Quartier. Im Grunde wollte sie gar nichts außer schlafen und vergessen. Ihr Körper jedoch brummte geradezu vor Energie.
Rachel ging den Weg hinauf in Richtung der Dschungelzone. Sie fühlte sich zu zittrig, um zu fliegen. Auf dem neuen Armbandgerät waren keine Aufgaben hochgeladen, nichts, das ihr gesagt hätte, wie sie ihre Stunde verbringen sollte. Alles, was einmal ihre Entscheidungen bestimmt hatte, war fort – man hatte es ihr gestohlen!
Sie fand sich vor dem kleinen Schuppen wieder, zu dem Treesa sie mitgenommen hatte. Wieso war sie nicht schon früher hierher gekommen?
Sie klopfte an die Tür. Niemand antwortete.
Rachel wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. Sie besaß wieder ein Armbandgerät. Sie wollte mit Harry reden, und mit ihrem Dad. Doch was sie am dringendsten gewollt hätte, war nicht mehr möglich: Ursula eine Nachricht zu schicken. Ihr fiel keine einzige Frage ein, die sie der Bibliothek hätte stellen wollen. Nichts, auf das sie eine Antwort gewollt hätte. So saß sie da und schaute hinaus durch den Garten; Tränen liefen ihr über das Gesicht. Yggdrasil hing über ihr. Das blaue Band des Flusses war zum Großteil jenseits des Baums über ihr verborgen, und der Grüngürtel, der als Trainigsbereich diente, sah aus wie eh und je. Sie zuckte zusammen, als ein Pflanzenbefeuchtungsroboter dicht über ihren Kopf hinwegflog.
»Das wird aber auch Zeit.«
Rachel fuhr zusammen. Treesas Stimme kam von oben. Treesa saß auf dem Dach des Schuppens; sie ließ die Beine über die Dachkante baumeln. Ihre Haar war grauer, als Rachel es in Erinnerung hatte, und ordentlich gekämmt. Treesas Kleidung sah neu aus, leuchtend rot und mit türkisfarbenen Federornamenten, die auf die großen Taschen aufgenäht waren. Selbst ihre Stimme klang lebhafter als früher, während sie weitersprach. »Die Eisprinzessin kehrt zurück. 20 Jahre hat sie gebraucht, um mal wieder bei mir vorbeizuschauen.«
Rachel antwortete nicht. Wenn sie rechtzeitig zu ihrem Treffen mit Gabriel kommen wollte, dann musste sie sich bald auf den Rückweg die Spirale hinunter machen. »Ich … ich weiß nicht, weshalb ich hergekommen bin. Es war der einzige Ort, der mir eingefallen ist. Ich kann nicht lange bleiben.«
»Du hast Zeit. Nach allem, was sie dir gestohlen haben, kannst du dir ein paar Minuten von ihnen nehmen, um eine Freundin zu besuchen.«
»Bist du denn eine Freundin?«
»Nun, du bist hergekommen, um mich zu finden.«
Rachel nickte. Treesa kauerte am Rand des Daches und streckte Rachel die Hand entgegen. Rachel ergriff sie, zog sich hinauf und setzte sich neben Treesa.
»Was wirst du jetzt machen?«, fragte Treesa.
»Gabriel bringt mich morgen zurück nach Aldrin.«
»Das habe ich nicht gemeint. Was glaubst du, wieso Ma Liren dich hat schlafen lassen?«
Über das genaue Wer oder Warum hatte sich Rachel bislang keine Gedanken gemacht. Es waren einfach ›sie‹ gewesen – einfach die Räte und der Hohe Rat, und es war ebenso sehr Gabriels Schuld gewesen wie die von allen anderen. Doch zu dem Zeitpunkt, als die Entscheidung getroffen wurde, war Gabriel war ebenso kalt gewesen wie sie. Rachel fiel es nicht schwer zu glauben, dass es Liren gewesen war, die alles veranlasst
Weitere Kostenlose Bücher