Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
nicht vorstellen, dass jemals irgendwer so etwas zu Toby gesagt haben sollte. Warum auch? Toby musste niemand zum Sprechen bringen.
»Okay, Mädels, ich hab eine bessere Idee. Bevor du hier wieder haltlos zu flennen beginnst«, er warf einen Blick auf Livs gerötetes Gesicht, »lasst mich mal ein paar Fakten in den Raum stellen, das lenkt ab.«
Tat es das? Liv war sich da nicht so sicher, aber gerade kam es ihr wie eine gute Idee vor. All die Gefühle, Ängste, Vermutungen – das brachte doch nichts. Fakten waren es, die zählten. Das war schon immer ihr Motto gewesen.
Sie atmete tief ein und merkte, wie es ihr allein durch die bloße Anwesenheit von Toby und Mai besser ging. Das war genau das, was sie gebraucht hatte.
»Ich hab mal ein bisschen recherchiert und noch mehr rausgekriegt als die paar Sachen, die heute Morgen in der Zeitung standen.« Tobys schönes Gesicht mit den hellen Haaren leuchtete im Schein der Sonne, die durch das Fenster schien. »Die Tote in eurem Vorgarten war zwanzig Jahre alt, sie stammt nicht von hier, sondern aus Providence. Sie war nicht abgeneigt, was Speed und andere Drogen anging, wenn man ihren Freunden glauben kann, ansonsten auch ziemlich durchgeknallt. War wohl gerade solo. Sie ging nicht aufs College, sondern hat coole Kunst gemacht und hatte sogar zwei oder drei Ausstellungen in einer hippen Galerie in Philly. Sie soll richtig was verkauft haben. Gott, sagte ich schon mal, dass ich Facebook liebe? Weiß gar nicht, wie die Leute jemals ohne haben leben können.«
Liv spürte, wie sie eine Gänsehaut überlief. Vernünftig über das Geschehene nachdenken, das war vielleicht eine gute Idee. Aber mehr über das Mädchen wissen, das wollte sie nicht. Dadurch bekam sie für Liv ein echtes Gesicht, wurde zu einem Menschen aus Fleisch und Blut, der wirklich etwas zu verlieren hatte. Nein, falsch. Der etwas verloren hatte. Sein Leben.
Mai sah sie besorgt von der Seite an. »Hey, Toby, halblang«, zischte sie, aber Toby war nicht zu bremsen. »Wisst ihr, was das Geilste ist? Die war mal einen Sommer lang auf unserer Schule. Und zwar – Zufall, Zufall – im Sommer vor zwei Jahren. Sie hat einen Kunstkurs in der Summer School besucht.«
Liv starrte ihn an und versuchte zu begreifen, was Toby da eben gesagt hatte. Jessie hatte ihr erzählt, dass Ethan auch in dem Kunstkurs gewesen war. Wenn das stimmte, dann …
»Hallo, Liv.« Wie auf Stichwort stand ihr Bruder neben ihr. Sie hatte nicht gehört, wie er reingekommen war. »Hallo, Toby. Hallo, Mai. Liv, tut mir leid, dass es doch etwas später gew…«
»Ist das wahr?«, fiel Liv ihrem Bruder ins Wort. »Das tote Mädchen? Toby behauptet, sie war vor zwei Jahren hier in Eerie auf der Summer School. Das heißt doch … kanntest du sie etwa?«
Sie brauchte nur einen Blick auf Jessies Gesicht zu werfen, um zu wissen, dass sie richtig lag.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?« Ihre Stimme wurde plötzlich laut und sie sah, wie Summer mit gerunzelter Stirn zu ihnen herüberblickte. »Warum erfahre ich das erst jetzt?«
Jessie hob die Hände. »Hey, langsam. Kennen ist zu viel gesagt. Ich hab sie höchstens ein paarmal getroffen.«
»Aber selbst das hättest du mir sagen müssen!«
»Du hast unter Schock gestanden, vergessen? Ich dachte, es würde dich noch mehr aufregen. Die Polizei hat das auch gesagt.«
»Die Polizei hat das auch gesagt?« Liv konnte es nicht fassen! Alle hatten Bescheid gewusst, aber der kleinen armen Liv konnte man nicht die Wahrheit zumuten?
Mai musterte Jessie. »Das ist doch jetzt egal, Liv«, sagte sie ruhig. »Viel wichtiger finde ich: Was weißt du über die Tote, Jessie?«
»Nichts«, sagte Jessie. »Sie war eine von diesen Kunstfreaks. Sie haben im Kunstraum gesessen und wie Besessene gemalt.« Er machte eine kleine Pause. »Sie ist immer für sich geblieben, das heißt, sie war fast ausschließlich mit ihrer Clique zusammen.«
Liv räusperte sich. »Diese Kunstclique … Gestern hast du gesagt, dass Ethan ein Teil davon war. Dann waren Rachel und Ethan Hobbs … befreundet?«
Jessie schüttelte den Kopf. Plötzlich wirkte er entsetzlich erschöpft. »Nein, Liv, so ist das nicht ganz richtig. Rachel und Ethan waren nicht nur befreundet. Sie waren zusammen. Genau genommen waren die beiden unzertrennlich.«
Zwei Jahre zuvor, Raum 213
Es war niemand gekommen.
Ethan wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er um Hilfe gerufen hatten. Er hatte die Kamera wer weiß wie lange angestarrt,
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