Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
bis ihm der Gedanke gekommen war, dass sie seine Chance sein konnte. Denn wo eine Kamera war, da war auch jemand, der sich die Bilder ansah, die sie lieferte. Der Hausmeister vielleicht. Er hatte die Arme ausgebreitet und geschrien. »Hilfe! Ich bin hier gefangen! Holt mich raus!«
Aber nichts war passiert. Niemand schien ihn zu hören. Niemand holte ihn hier heraus.
Vielleicht waren nur ein, zwei Stunden verstrichen, seit er hier war. Vielleicht waren es auch zwölf. Vielleicht hundert.
Sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen und sein Handy war noch immer tot. Um vier Uhr nachmittags hatte er sich mit dem Bro getroffen, das erschien ihm eine Ewigkeit her.
Vor dem Fenster war es immer noch dunkel, aber trotzdem hatte er nicht das Gefühl, es wäre Nacht. Vielleicht lag das daran, dass Zeit in diesem Zimmer keine Rolle spielte? Zeit verlief nach Regeln, und Regeln galten in diesem Albtraum, in dem er gelandet war, nicht mehr.
Ethan hatte das schon ein paar Mal erlebt – Albträume, die sich erschreckend real angefühlt hatten. Es gab sogar einem Begriff dafür, er hatte es im Internet recherchiert. »Klarträume« nannte man sie in der Fachsprache. Ein Teil des Gehirns war noch wach und produzierte eine Folge von Bildern, die dem Schlafenden ungeheuer echt vorkamen.
Oder?
Oder?
Das Zimmer hatte sich verändert. Die Pulte und Stühle waren verschwunden, auch die Tafel und die großen Schränke. Stattdessen war das Zimmer bunt geworden.
Ein riesiger orangefarbener Sitzsack lag in einer Ecke, an den Wänden hingen Bilder mit den Abdrücken von kleinen Kinderhänden. Mobiles mit lustigen Tieren baumelten von der Decke herab, in einer Ecke war eine Spielzeugeisenbahn aufgebaut, ein rotes Bobby Car stand in der Ecke.
Ethan kannte das Zimmer. Es war in dem Kindergarten, den er und der Bro besucht hatten.
Ethan selbst saß auf einem Stuhl, der viel zu klein für ihn war. Er hob wieder den Kopf und suchte die Kamera mit seinem Blick.
Er räusperte sich. Dann richtete er sich auf und ging ganz nah an die Kamera heran. Er spürte einen Moment dem leisen Sirren nach.
Als er ganz dicht vor der Kamera stand, hob er eine Hand. »Egal, was passiert, du sollst wissen, dass ich dich geliebt habe, Rachel«, flüsterte er. »Dich immer noch liebe. Rachel, ich verzeihe dir.«
12
Für einen Moment herrschte Stille am Tisch. Selbst Toby hatte es die Sprache verschlagen. Aber er fasste sich als Erster. »Ethan und diese Rachel waren ein Paar?«, fragte er nach. »Das kann ich nicht glauben.«
»Glaub, was du willst«, brummte Jessie genervt. »Die Polizei jedenfalls hat sich sehr für die Tatsache interessiert.«
Liv kaute an ihrer Unterlippe. Was hatte das zu bedeuten?
»Vielleicht hatte Rachel etwas damit zu tun, dass Ethan Hobbs in die Klapse gekommen ist?«, vermutete Mai und rieb sich die Stirn. »Und er hat all die Zeit, in der er da drin saß, geschworen, dass er sich an ihr rächt, wenn er rauskommt.«
»Schwachsinn«, sagte Jessie. »Du siehst zu viele schlechte Fernsehserien.«
Mai wollte offenbar gerade empört protestieren, aber sie schluckte ihren Satz runter und ihre Augen wurden ganz weit.
»Was ist denn?«, fragte Liv und drehte sich unwillkürlich zur Tür um.
Dann sah sie, wer in der Tür des Diners stand.
Es war Ethan.
Ethan Hobbs, den sie in seinen schwarzen Klamotten und mit dem starren Blick mittlerweile unter hundert anderen erkannt hätte. Er nickte ihr leicht zu, ging ganz selbstverständlich an die Theke, bestellte bei der nichtsahnenden Summer einen Kaffee und suchte sich schließlich einen Tisch in der entgegengesetzten Ecke des Raums. Dort ließ er sich mit dem Rücken zu ihnen nieder.
»Ich fass es nicht«, sagte Toby. In seiner Stimme klang eine Mischung aus Neugier, Bewunderung und Abscheu mit.
»Warum ist er nicht längst festgenommen worden?« Mais Stimme klang panisch. »Warum hat die Polizei ihn nicht verhaftet?«
Jessie stand abrupt auf. Er war kalkweiß. »Liv, komm sofort mit. Wir fahren nach Hause.«
Liv schüttelte nur stumm den Kopf. Sie wusste, dass das, was sie vorhatte, keine gute Idee war. Bestimmt der falsche Weg. Jessie, Mai und Toby würden vermutlich ausflippen.
Aber sie musste das jetzt tun. Es war die einzige Möglichkeit, sich dem zu stellen, was passiert war. Und nun endlich Klarheit in ihre Gedanken zu bringen.
»Zehn Minuten«, sagte sie. Sie stand auf und sah in die Runde. Zuletzt fixierte sie ihren Bruder. »Und wagt es ja nicht, mich vorher zu
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