Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
war alles in Ordnung. So jedenfalls schien es uns. Rachel und ich waren glücklich und Jessie war unser bester Freund. Es hatte sich nur die Konstellation geändert. Doch eines Tages schlug er mir eine Mutprobe vor, ›just for fun, Bro‹, sagte er. Ich fand die Idee witzig und ließ mich darauf ein. Aber sie war alles andere als witzig.«
»Was war es?«
Ethan antwortete lange nicht. »Tut mir leid, aber das ist etwas, worüber ich nicht sprechen kann. Das habe ich in meinem Inneren eingesperrt und werde es nie, nie, nie mehr herauslassen. Sagen wir einfach, Jessies Version von einer Mutprobe …«, wieder eine Pause, »hat mich für fast zwei Jahre in die Psychiatrie gebracht.«
»Und Rachel?«
»Rachel ist mir treu geblieben. Am Anfang durfte sie mich nicht besuchen, keiner durfte das, die Ärzte wollten das so. Aber später kam sie jeden Samstag nach Davenham und sie hat immer daran geglaubt, dass ich eines Tages gesund werde.«
Liv schloss die Augen. All das hier war zu viel. All diese neuen Informationen, das Bild von ihrem Bruder. Derselbe Bruder, der sie mit seiner Homer-Simpson-Imitation zum Lachen brachte und der sie als Monster verkleidet an Halloween zu Tode erschreckt hatte.
»Ethan – mach die Tür auf! Sie gehört dir nicht! Sie hat mit uns nichts zu tun!« Ihr Bruder klang jetzt so, als ob er weinte.
Der Raum wurde merklich dunkler. Liv fuhr es kalt über den Rücken.
»Ich weiß nicht, was genau passiert ist«, sagte Ethan schnell. »Ich weiß nur, dass Rachel mir an dem Abend, als sie gestorben ist, eine Nachricht geschickt hat. Ich saß im Diner und hab mein Handy nicht gehört. Als ich endlich meine Nachrichten checkte, war es schon über zwei Stunden her, dass sie die SMS abgeschickt hatte. Sie schrieb, dass sie sich mit Jessie im alten Baumhaus treffen würde – und dass ich bitte sofort kommen solle.« Er griff nach seinem Telefon. »Willst du sehen? Ich hab sie gespeichert. Es ist das Letzte, was ich von Rachel hab.«
Liv schüttelte den Kopf. »Du meinst, mein Bruder …«
Sie konnte nicht weiterreden.
Ethan sah sie mit großen Augen an. »Ich weiß es nicht, Liv«, flüsterte er. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich Jessie mein ganzes Leben lang völlig falsch eingeschätzt habe.«
Hatte sie das auch? Das Ringelreihen-Lied fiel ihr wieder ein. Nur sie, ihre Eltern und Jessie konnten davon gewusst haben. Das hatte sie damals auch der Polizei gesagt.
Plötzlich ertönte ein Knacken über Liv, dann ein Sirren, das sie nicht recht zuordnen konnte. Alarmiert sprang sie auf. Draußen fing Jessie wieder an zu toben und mit schriller Stimme Beschimpfungen auszustoßen.
Warum hörte ihn denn niemand? Gab es keine Sicherheitsüberwachung an dieser Schule? Und wo verdammt noch mal blieb die Polizei?
Liv spürte, wie die Tränen über ihre Wangen liefen. Sie wollte, dass das hier alles vorbei war, dieser ganze Albtraum.
Ethan betrachtete sie, sie konnte das Mitleid, das in seinen Augen stand, nicht länger ertragen. Ihr Blick schwenkte auf den Fußboden, wo die Schatten tanzten und immer neue Linien bildeten und zu Formen wurden.
Liv schaute genauer hin. Das waren keine Formen, das waren Buchstaben.
Sie wischte sich über die Augen. Das konnte nicht sein. Aber doch, so war es. Die Schattenlinien auf dem Boden bildeten ein Wort.
»Gefangen.«
Plötzlich wurde ihr eiskalt, so kalt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie fuhr auf dem Absatz herum und prallte gegen Ethan, der sie mit beiden Armen umfing. Sie spürte seine muskulösen Arme um ihren Oberkörper, seine Wärme, die das Zittern in ihr bekämpfte.
»Keine Angst«, flüsterte er in ihr Ohr. »Ich bin ja bei dir. Du bist in Sicherheit. Bald ist alles vorbei.«
Zwei Jahre zuvor, Raum 213
»Einer für alle?«
Der Stuhl flog gegen die Tafel und zersplitterte dort in tausend Teile.
»Alle für einen?«
Ethan packte den nächsten Stuhl.
»Aber keiner für mich!«
Das Glas gab einen hellen Ton von sich, splitterte aber nicht, als der Stuhl gegen die Scheibe prallte.
Ein Holzsplitter des Stuhls hatte sich tief in seine Hand gebohrt, doch Ethan spürte den Schmerz nicht. Vor Wut hatte er sich seine Lippe blutig gebissen. Das Licht im Klassenzimmer war gleißend hell, zumindest kam es ihm so vor, Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und stand mit nacktem Oberkörper mitten im Zimmer, den Arm erhoben zum nächsten Schlag. Sein lautes Keuchen durchdrang die Stille, bei jedem Atemzug
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