Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
verstehen. Hier ging es um ihren eigenen Bruder, der wahnsinnig geworden war. Konnte Ethan das nicht begreifen?
Er schien ihre Gedanken zu lesen. »Jessie und ich kennen uns seit Urzeiten«, sagte er. »Genauer gesagt seit dem Kindergarten. Ich war zwei und er war drei. Ich hatte entsetzliche Angst vor Auntie Ruth, der Kindergärtnerin. Jessie hat mich in Schutz genommen. Ich weiß noch, wie er mir jeden Morgen Mr Vandereickel, seinen zerkauten Teddy, in die Hand gedrückt hat, damit der mich tröstet. Und beim Bobby-Car-Rennen hat er immer mich gewinnen lassen, obwohl ich viel langsamer war.«
Liv musste schlucken. Der Teddy. Sie hatte keine Ahnung, warum Jessie ihn Mr Vandereickel getauft hatte.
»Aber warum …« Sie stockte. »Ich erinnere mich nicht an dich.«
»Du warst noch so klein. Wir sind nur ein Jahr in Eerie geblieben. Meine Eltern haben sich getrennt. Ich bin dann mit meiner Mutter weggezogen, in den Süden nach Georgia, und erst vor drei Jahren zurückgekommen.«
Draußen war wieder Jessies Stimme zu hören. »Liv, ich flehe dich an. Was immer er dir erzählt, er ist wahnsinnig. Er lügt. Er kann gar nicht anders. Bitte, mach einfach die Tür auf. Vertrau mir.«
Jetzt klang er wieder ganz normal, so wie immer, wie Jessie, ihr großer Bruder. Liv zögerte. Sie tauschte einen Blick mit Ethan, der sie fest ansah.
»Liv, wenn du erwartest, dass ich jetzt das Gegenteil beteure – das werde ich nicht tun. Glaub mir, ich bin nicht gerade unschuldig an dem, was mit Jessie passiert ist. Und ich bereue das mehr als alles andere.« Er schaute für einen Moment auf den Fußboden. »Ich habe mich in Rachel verliebt diesen Sommer. Einfach so. Es ist passiert. Sie und ich … Das war irgendwie … Seelenverwandtschaft. Das Problem war nur …«, Ethan zögerte kaum merklich, »Rachel war damals mit Jessie zusammen. Meinem besten Freund.« Er stand abrupt auf und ging an die Tafel, die nicht ganz sauber gewischt war. Er kehrte Liv den Rücken zu. »Du hast es in den Videos gesehen. Nach außen wirkte es, als wäre alles in Ordnung. Aber das stimmte nicht. Rachel war nicht glücklich mit Jessie. Sie haben sich gestritten, oft sogar. Und sie wusste, dass er nie längere Beziehungen hatte. Eines Tages hat sie sich bei mir ausgeweint …«
Er unterbrach sich und lauschte.
»Und dann?« Liv versuchte, sich auf Ethans Stimme zu konzentrieren, während Jessie draußen vor der Tür wieder zu brüllen begann. »Vertrau ihm nicht, er lügt dich an!«
Aber wenn das tatsächlich so war – warum holte Jessie dann nicht Hilfe? Warum klingelte er nicht den Hausmeister heraus? Warum drohte er nicht mit Polizei?
Weil er schuldig ist , flüsterte es in ihrem Kopf. Ein Detail nach dem anderen spuckte ihr Gedächtnis aus. Jessie, der in der Nacht nach dem Mord spurlos verschwunden war und dann behauptet hatte, sie habe nur schlecht geträumt. Jessie, der leichenblass im Flur lehnte, als sie in den Garten gerannt war, obwohl er doch eigentlich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht hatte wissen können, was passiert war. Jessie, der als Einziger die Nachricht vom Rechner hatte löschen können. Und hatte er nicht heute auch noch aufs Polizeirevier gemusst? Hatte da Silva ihn etwa auch schon unter Verdacht? Fehlten ihr nur die Beweise?
»Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten«, sagte Ethan. »Ich habe Rachel gestanden, dass ich mich in sie verliebt hatte. Und es stellte sich heraus, dass es ihr auch so ging.« Er seufzte. »Was ich nicht wusste – ich hab damit den größten Fehler meines Lebens gemacht.«
»Wie meinst du das?«
»Ich hätte auf Rachel verzichtet, wenn ich gewusst hätte, was für Konsequenzen es haben würde.« Er drehte sich zu Liv um. Er hatte Tränen in den Augen. »Ganz bestimmt hätte ich auf sie verzichtet. Denn mein Egoismus hat sie das Leben gekostet.«
Eine plötzliche Bewegung neben ihr ließ Liv hochschrecken. Das Muster auf dem Boden geriet spürbar in Bewegung, als ob es ein Eigenleben führte. Die Schatten wurden noch tiefer, neben Ethans Fuß wurde der Streifen zu einem Quadrat. »Was war das?«, fragte Liv alarmiert.
Ethan sah sie irritiert an. »Was denn?«
Liv ließ sich wieder auf ihren Stuhl niedersinken. »Weiter«, sagte sie.
»Damals, vor zwei Jahren, dachte ich, es wäre das Richtige. Und Jessie war auch überhaupt nicht sauer. Er hat gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Ein echter Kumpel eben. Wir hatten keine Ahnung, wie gut er sich verstellen konnte. Eine Zeit lang
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