Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
kletterte, die Kerze anzündete und an der Stelle platzierte, wo Rachel gestorben war.
Dann kam er zu ihr herunter. Liv sah ihm ins Gesicht und sah die Gefühle, die sich dort widerspiegelten. Und plötzlich fühlte sie sich entsetzlich klein und hilflos.
»Sie waren einmal meine besten Freunde«, sagte Jessie. »Alle beide.«
»Seit wann hast du gewusst, dass mit Ethan etwas nicht stimmt?«, fragte Liv leise.
»Keine Ahnung«, sagte Jessie. »Er hat sich nichts anmerken lassen. Es war tatsächlich der Sommer unseres Lebens. Selbst nach diesem bescheuerten Seitensprung.«
Liv legte einen Arm um ihn. Ethans Geschichte war vielleicht auch deswegen so glaubhaft gelogen gewesen, weil sie fast der Wahrheit entsprochen hatte. Aber eben nur fast. In Wirklichkeit war es genau umgekehrt gewesen.
Ethan, Rachel und Jessie. Die drei waren in jenem Sommer tatsächlich unzertrennlich gewesen. Und ja, Rachel und Ethan hatten sich abgöttisch geliebt. »Sie hätte alles für ihn getan und er für sie«, das waren Jessies Worte gewesen.
Aber dann waren Rachel und Jessie eines Nachts zusammen im Bett gelandet. Es war ein Ausrutscher gewesen, beide waren nicht verliebt. Ethan hatte sie erwischt. Und ab dem Zeitpunkt musste er irgendwie abgedriftet sein.
»Weißt du, Rachel hat sich das selbst nie verziehen«, sagte Jessie, den Blick unverwandt auf das Baumhaus gerichtet. »Sie war am Boden zerstört, als ihr klar wurde, was wir da gemacht hatten.« Jessie schaute auf die Kerze, die im Wind flackerte. »Deswegen war sie ja so erleichtert, wie cool Ethan damit umgegangen ist. Eben ein echter bester Freund. Er hat sich überhaupt nichts anmerken lassen, hat behauptet, es wäre okay, hat noch im Spaß gemeint, unter Freunden könnte man ja teilen.«
Liv nickte. Genau das hatte ihr Ethan im Raum 213 auch erzählt. Nur dass er von Jessie gesprochen hatte und nicht von sich selbst. »Aber er hat die ganze Zeit an Rache gedacht.«
Jessie fuhr fort. »Ich vermute es. Und ich war der Erste auf seiner Liste, das war mir damals aber nicht klar. Erst hat er nur ein bisschen herumgeblödelt, aber dann, eines Nachmittags, ist er mit mir in die Schule gegangen, zu Raum 213. Und da hab ich schon gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt.«
»Woran?«, fragte Liv.
»Er war ganz anders als sonst. Auf der einen Seite auffallend still. Aber gleichzeitig hat er eine so ungeheure Energie ausgestrahlt, war wegen irgendetwas wahnsinnig aufgeregt. Er hat einen Schlüssel aus der Tasche hervorgezogen und hat behauptet, dass der Raum denjenigen tötet, der Verrat ausübt.« Jessie schnaubte. »Damals dachte ich nur, hey, das waren dann doch zu viele Drogen auf einmal. Bis ich merkte, dass er es ernst meinte. Er war irgendwie besessen von dem Raum.« Jessie schüttelte den Kopf. »Ich kannte die Gerüchte, aber das war ja nun der größte Mist, den ich je gehört habe.«
»Hast du ihm das gesagt?«
»Natürlich. Er faselte etwas von wegen, dass ich mich ja nur nicht trauen würde, den Test zu machen. Und als ich das als kindischen Unsinn abgetan habe, ist er ausgerastet. Im wahrsten Sinn des Wortes. Und das war das erste Mal, dass ich Todesangst hatte. Er hatte keine Waffe, nichts, wovor ich mich eigentlich hätte fürchten müssen. Aber ich wusste, er hasst mich so, dass er mich töten will.« Jessie zog seine Jacke fester um seinen Körper, als würde er frieren. »Er wollte mich in den Raum stoßen, aber irgendwie habe ich es geschafft, den Spieß umzudrehen und ihn hineinzustoßen. Als er drin war, hab ich die Tür zugeschlagen und bin gerannt, so schnell ich konnte. Ich wollte da nur weg, weg von diesem Irren.«
»Und dann?«
Jessie zuckte mit den Schultern. »Nichts dann. Merkwürdigerweise ist er mir nicht gefolgt. Stattdessen wurde er am nächsten Morgen auf dem Flur in der Schule gefunden, völlig von der Rolle, mit gebrochenem Bein. Er ist nach Davenham gebracht worden und dann habe ich erst wieder von ihm gehört, als du mich nach ihm gefragt hast.«
Das Grablicht flackerte im Wind.
Liv starrte zu dem goldgelben Licht und dachte daran, was sie in den Minuten, als sie zusammen mit Ethan in Raum 213 gewesen war, erlebt hatte. Sie wusste nicht mehr, was sie sich in ihrer Angst alles eingebildet hatte. Und sie wollte auch nicht spekulieren, wollte sich nicht in ihren Gedanken verlieren. Sie wollte nur eins: nie wieder auch nur einen Fuß in Raum 213 setzen.
»Dass ich Ethan allein zurückgelassen habe, hat Rachel mir nie verziehen.«
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