Harold - Einzlkind: Harold
Ein purpurrotes Sofa präsentiert zwei Damen, die dezent im Earl Grey rühren und ohne jede Scheu neugierig die Gäste betrachten.
»Joanne, Liz, darf ich euch Rupert und Nicolas Livingston vorstellen. Unsere neuen Nachbarn, die das Bolteri-Haus erworben haben.«
Hände werden nicht geschüttelt, nur ein flüchtiges Nicken im Vorbeigehen, da Carolyn zielstrebig voranschreitet in Richtung einer Flügeltür, hinter der merkwürdige Geräusche zu vernehmen sind.
»Wie Sie der Einladung ja schon entnehmen konnten, ist der monatliche Vater-Sohn-Tag unserer Straße seit vielen Jahren Tradition. Und wie ich just höre, kommen Sie gerade noch rechtzeitig zum gemeinsamen Singen. Volkslieder, Operetten, Opern, für jeden ist etwas dabei. Sie sind mit den Modi des Dorischen und des Mixolydischen wohl vertraut?«
17
Vier Väter. Vier Söhne. Der Gastgeber, Jeremiah Newsom, mit Sohn David, Fred Gillespie, Geschäftsführer eines multinationalen Hedge-Fonds, mit Sohn Bernhard, Martin Dahoney, Professor für Wirtschaft in Cambridge, mit Sohn Robert und Brian Krieger, hochrangiger Diplomat a. D. und ungemein erfolgreicher Rosenzüchter, mit Sohn Kenny. Da es anscheinend üblich ist, dass die Söhne ihre Väter vorstellen und Melvin beim besten Willen weit und breit kein Paradies der Bescheidenheit erkennen kann, stellt er Harold als Experimentalphysiker, Schwerpunkt hybride Nano-Bio-Systeme, vor. Und um die Blicke ein wenig von Harolds senfgelbem Fischgräten-Sakko abzulenken, fügt er noch hinzu, dass Harold dem Ruf zur Professur am deutschen Max-Planck-Institut nicht zu folgen gedenke, jeden ersten Dienstag im Monat mit Thomas Pynchon Schach spiele, sein Onkel Walter Doktorvater von Elias Canetti sei und Harold als Rabbi die Shoa selbstverständlich frei rezitieren könne, ohne gleich Fundamentalist zu sein, weshalb er auch Hakim El Bounadi, buddhistisch-orthodoxer Kabbalist eines islamischen Freimaurer-Ordens, zu seinen besten Freunden zähle. Außerdem hat Melvin noch einen verwandtschaftlichen Grad mit Laurence Olivier über eine uneheliche Cousine aus Newcastle ausfindig machen können und eine eigens in Auftrag gegebene Untersuchung ins Spiel gebracht, die Harolds direkte Nachfahrenschaft von Jesus Christus nicht gänzlich auszuschließen vermag.
Harold hat das Gefühl, sein Leben aus einem ganz neuen Blickwinkel zu sehen. Doch wo andernorts eine solche Biografie spontanen Applaus nach sich ziehen würde, beschränken sich die Reaktionen dieserorts auf ein mildes Kopfnicken. Der Sohn des Hauses scheint gar einen Anflug von Misstrauen an den Tag zu legen, wie Melvin meint spüren zu können, was ihn aber nicht weiter kümmert. Denn die ganze Zeit über hat Melvin nur Augen für Jeremiah Newsom. Er versucht, Ähnlichkeiten in der Physiognomie ausfindig zu machen, die Art der Bewegungen und Gesten zu analysieren, irgendeinen Punkt zu finden, der auf ihre gemeinsamen Ahnen schließen lässt. Aber je mehr er ihn beobachtet, desto unsicherer wird er. Dieser Jeremiah Newsom ist ungeheuer groß, kräftig, mit der Neigung zur Fettleibigkeit, hat rotblondes Haar, grüne Augen, eine cäsarengeschwungene Nase und eine Stimme, die einem Bassbariton zur Ehre gereicht. Genauso gut könnte Melvin annehmen, Margaret Thatcher sei sein Vater. Oder Mork vom Ork. Auch sein potenzieller Halbbruder, der zehnjährige David Newsom, scheint aus einer anderen Galaxie zu stammen, da er, obwohl jünger als Melvin, mindestens zwei Köpfe größer und gut dreißig Pfund schwerer ist und auch die Kurzsichtigkeit augenscheinlich nicht zu den familiären Erbschäden zählt. Aber gibt es nicht in jeder Familie ein schwarzes Schaf? Ist nicht die Ausnahme die Regel?
Melvin hat bisher kaum eine Möglichkeit gesehen, mit Jeremiah Newsom zu reden, ständig wird gesungen oder, schlimmer noch, gespielt oder, am schlimmsten, gesungen und gespielt. Da Kenny Kriegers Vater Brian als ausgebildeter Konzertpianist schwebend über die Tasten zu gleiten vermag und nicht nur das gemeine Volksliedgut und nicht nur Cole Porter und Petula Clark und nicht nur Debussy und Brahms, sondern zu Melvins Leidwesen auch die Iphigenie, Tristan und Isolde und die Zauberflöte blindlings zu interpretieren weiß, gerät im Überschwang der Gefühle das Musizieren zum Ratespiel. Wer zuerst ein Lied erkennt und mindestens eine Strophe fehlerfrei zu singen vermag, wird mit aufmunterndem Applaus und spontanen Lobpreisungen bedacht. Da es nichts zu gewinnen gibt, sieht Melvin keinerlei
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