Harold - Einzlkind: Harold
einer Konversation zu haben und setzt seinen Weg, wohin immer er ihn auch führen mag, fort. Harold ist erleichtert und blickt fragend Melvin an, der jedoch nur noch Augen für das keine zehn Meter mehr entfernte Haus hat. Es hat dunkle, rote Backsteinmauern, wie fast jedes Haus in der Straße, am Kamin schlängelt sich Efeu empor, bis zu dem kleinen runden Erker mit den großzügigen Butzenscheiben, die in ihrer Überschwänglichkeit so wundersam mit dem Licht spielen. Und je näher er kommt, desto mehr hat er das Gefühl, als habe dieses Haus auf ihn gewartet, als sei er für eine Weile fort gewesen und nun wieder daheim. Für einen wohligen ersten Eindruck sorgt auch das mit Messing geschmiedete Tor mit den ineinander beinelnden Pferden, die als Türknauf den Hauch von schummriger Dekadenz versprühen und doch, da sie nicht aus reinem Titan oder so sind, die Note der Bescheidenheit nicht missen lassen. Über einer cremefarbenen Klingel ist ein mit Blattgold verziertes Schild angebracht. Familie Newsom ist mit geschwungener Handschrift eingraviert.
Melvin ist nicht aufgeregt.
Ist nicht aufgeregt.
Nicht aufgeregt.
Aufgeregt.
Harold schaut Melvin an und ist irritiert, etwas fehlt, eine Eigenschaft, welche dem Bild die Unvollständigkeit nimmt, es in sich wieder stimmig macht. Die Bewegung.
Melvin bewegt sich nicht, er scheint nicht einmal zu atmen, was nach Harolds Erfahrungen keine gute Idee ist. Harold denkt über die sich bietenden Handlungsalternativen nach und entscheidet sich für die müheloseste. Er drückt auf die Klingel, die wie eine weit entfernte Kirchenglocke fünf wohlfeine Töne dem Gezwitscher der Blaumeisen hinzugesellt.
Melvin zählt die Sekunden. In Hundertsteln. Bei 7,4 zuckt er zusammen. Wie ein Schneebesen, der die Luft schlägt, erklingt ein leises Surren, das sich beruhigend in die Gehörgänge einschmeichelt und den Gast willkommen heißt. Kurz bevor der Ton wieder verstummt, öffnet Harold geistesgegenwärtig das Tor und erschrickt vor seiner eigenen Spontaneität.
Der Weg bis zur holzvertäfelten Haustür ist kürzer als angenommen, sieben Schritte, bei großzügiger Abmessung, links und rechts schicklich gemähtes Grün und zwischen zwei Büschen spuckt eine Fischskulptur unablässig Wasser in einen kleinen Brunnen. Kurz bevor sie die letzte der vier Stufen hinauf zur Haustür erreichen, öffnet sich diese mit einem sanften Knurren. Eine Frau im vorwelken Alter mit lockigem Haar steht im Rahmen, fixiert die Gäste mit ihren rehbraunen Augen und lächelt wie Milchschokolade.
»Hallo«, sagt eine engelsgleiche Stimme und Melvin sieht grüne Wiesen mit Maiglöckchen und Schmetterlingen und die Sonne strahlt ihr schönstes Abendrot in die friedvollste aller möglichen Welten. Nie hatte er sich vorstellen können, sich jemals einem ihm fremden Ort so hingebungsvoll auszuliefern, wie er es in diesem Moment verspürt.
»Hallo«, sagt dieselbe engelsgleiche Stimme, wenngleich der Tonfall etwas fragender ausfällt.
»Guten Tag«, antwortet Melvin, der Mühe hat, die Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen, »entschuldigen Sie die Störung, wir sind ...«
»Rupert und Nicolas Livingston. Es freut mich sehr, dass Sie es doch noch haben einrichten können. Carolyn Newsom, aber nennen Sie mich doch einfach Carolyn«, sagt die engelsgleiche Stimme in Richtung Harold, der die ihm entgegengestreckte Hand schüttelt und unsicher ist, ob er Rupert oder Nicolas heißt. Melvin überlegt den Bruchteil einer Sekunde und entscheidet sich spontan für den Irrtum und gegen die Wahrheit, die ihm von Kindheit an kein allzu großer Vertrauter ist. Außerdem hinterlässt seine potenzielle Stiefmutter einen exquisiten ersten Eindruck, in ihrem hellrosa Chanel-Kostüm, mit der hochpreisigen Steckfrisur und dem gewagten Kajalstrich, der ihr den charismatischen Hauch der privatimen Verruchtheit verleiht. Melvin kann sich gut vorstellen, dass Carolyn früher einmal als Unterwäschemodel in Spezialkatalogen Aufsehen erregte.
»Unvorhersehbare Ereignisse haben uns aufgehalten, entschuldigen Sie bitte unsere Verspätung.«
»Ich verstehe. Folgen Sie mir bitte.«
Carolyn führt die Gäste durch einen großzügigen Flur in ein Atrium, das im letzten Abendlicht getaucht an koloniale Zeiten erinnert, mit schweren Korbsesseln und ausschweifenden Pflanzen, mit plüschigen Gemälden und antiken Kleinoden, die von fernen Reisen zeugen und farblich abgestimmt bis in die kleinste Nuance mit der Einrichtung harmonieren.
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