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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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keine Geschwister.«
    Melvin kann nicht ganz folgen. Er sieht sich um. Der Raum ist mindestens sechzig Quadratmeter groß. Ein Gemisch aus Werkstatt und Wohnung. In der Mitte, im Halbdunkel, steht ein alter Bentley, Türen und Motorhaube fehlen und die noch vorhandenen Scheiben sind mit einer zentimeterdicken Staubschicht vor allzu neugierigen Blicken geschützt. Schmierige Lappen hängen über einem rostigen Ölfass, als seien sie dort vergessen worden, bevor der Erste Weltkrieg ausbrach. Auf der linken Seite stehen zwei alte Sessel, der grün-braune Kordbezug hat sich hier und da tapfer gehalten, nur die Federung hinterlässt einen hochgradig indisponierten Eindruck. Zwischen den Sesseln steht ein kleiner Tisch, der wankelmütig ein handgeschnitztes Schachbrett trägt. Der schwarzen Dame fehlt der Kopf, dem weißen König ein paar Zacken in der Krone und die Türme sehen beiderseits nicht so aus, als könnten sie einer ernsthaften Belagerung standhalten. Schritte kommen näher. Vertraute Schritte. Melvin dreht sich um. Es ist Harold.
    »Kann ich helfen?« Melvin dreht sich wieder um. Ein Mann steht keine zwei Meter entfernt vor ihm, als habe er sich oder jemand ihn just materialisiert. Er hält einen Schraubenschlüssel in der Hand, mit dem sich, wäre es vonnöten, Flugzeugträger zusammenbauen ließen. Der Mann ähnelt Jim, vier oder fünf Jahre älter vielleicht, etwas dicker, aber die gleiche rosige Haut. Auch er trägt ein amerikanisches Arbeiterhemd mit Namen auf der Brust. Sein Name ist John.
    »Wir würden gerne zahlen. Wir haben getankt.«
    John legt den Kopf schräg, als habe er nicht recht verstanden. »Ihr habt getankt?«
    »Ja, getankt. Ist das so ungewöhnlich?«
    John denkt nach. »Und ihr möchtet bezahlen?«
    »Nun, wenn es zu viele Umstände bereitet, können wir im gegenseitigen Einverständnis auch davon absehen.«
    »Das macht 100 Pfund.«
    »Auf der Anzeige steht 43 Pfund, Sie können gerne nachsehen.«
    »Die Anzeige ist kaputt.«
    »Und woher wissen Sie dann, dass es 100 Pfund sind?«
    »Erfahrung.«
    Erfahrung? Melvins bisweilen etwas direkte Art hat ihn schon als Grundschüler ein ums andere Mal in eine prekäre Situation gebracht. Als er sich weigerte, auf einem Schulfest sambaesk für eine heile Welt zu trommeln, da er solch Gehabe als debiles Muster der Sozialpädagogik ablehnt, wurde er an vorderste Front befohlen, um eine fröhlich bunte Friedensfahne zu schwenken. Eine Demütigung, von der er noch ein halbes Jahr lang alpträumte, zumal Fotos belegen, dass er an jenem Tag von seiner jungfernen Klassenlehrerin Mrs. Honeymoon auch genötigt wurde, ein Che-Guevara-T-Shirt zu tragen. Und als er Paul Ellington, der ein Jahr jünger, aber zwei Köpfe größer war, sagte, dass er ihn für einen fettleibigen Primaten aus der intellektuellen Unterschicht halte, schlug dieser ihm mit einem einzigen Schlag vier Milchzähne auf einmal aus, eine Leistung, die bis zum heutigen Tag als Schulrekord in den Annalen steht. Eingedenk der psychischen und physischen Konsequenzen zu großer Offenheit hat Melvin gelernt, seine Auffassungen freundlicher zu formulieren.
    »Sind Sie in psychiatrischer Behandlung?«
    »Spielt ihr?«
    »Bitte?«
    »Schach.«
    »Warum?«
    »Eine Partie um die 100 Pfund.«
    Melvin schiebt die Brille ein Stück die Nase hoch und versucht sein Entzücken zu verbergen, indem er missmutig seine Backen aufplustert und eine gehörige Portion Kohlendioxid seitlich hinauspustet. Harold starrt lieber auf den Fischfilm. Interessant. Wie Fische schwimmen. Und ohne Haie.
    »Warum nicht.«
    »Die Regeln sind bekannt?«
    Melvin könnte John darauf hinweisen, dass er viermal hintereinander die Schul-Schachmeisterschaft gewonnen hat. Aber warum sollte er unnötig für Irritationen sorgen?
    »Grob.«
    »Der Herausforderer hat selbstverständlich weiß.«
    Erster Fehler.
    »Ach so, und es wird Blitzschach gespielt.«
    Zweiter Fehler. Melvin hat im Blitzschach zwei englische Großmeister geschlagen, auf einem Benefizturnier zugunsten hungernder Kinder irgendwo in Indien.
    »Fünf Minuten Zeitlimit für jeden.«
    Fünf Minuten? So lange wird Melvin nicht brauchen, aber bitte.
    »Falls es kein Problem darstellt.«
    Dritter Fehler. Unterschätze niemals deinen Gegner.
    »Bitte schön.« John deutet einladend auf den linken Sessel, der noch mitgenommener aussieht als der rechte. Selbst traurige Zeitgenossen würden ihn zwischen zwei Schlücken Wodka Gorbatschow nur schielend beachten, läge er

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