Harold - Einzlkind: Harold
Melvin ein Rätsel auf. Doch noch bevor er weiter darüber nachdenken kann, torkelt eine Symbiose aus Kevin Keegan und Whitney Houston in ihre Richtung und erbricht den Wochenvorrat einer gut laufenden Suppenküche auf den orangefarbenen Flokatiteppich. Kleine Bröckchen landen auf Harolds Gefieder. Es sieht nicht schön aus. Es riecht nicht gut. Es ist schlimm. Die Symbiose sieht nicht so aus, als wäre sie schon fertig. Sie sieht aus, als käme noch sehr viel mehr.
Melvin greift instinktiv Harolds Hand und zieht ihn mit sich auf die Terrasse. Auch hier wimmelt es von Individuen jenseits der Vernunft. In Grüppchen verteilt, stehen, lagern und schlängeln sie sich um den Pool, der sanft beleuchtet im Zentrum des Gartens eingefasst wurde. Die Gäste scheinen sich zu amüsieren, es sind überwiegend Männer, soweit sich das beurteilen lässt. Ein Paradies. Ein Sündenpfuhl. Ein Karussell. Für Menschen mit homoerotischen Neigungen. Melvin erblickt Jerry an einem der lose verteilten Stehtische. Er unterhält sich mit Harry Belafonte, der höchstens zwanzig ist.
»Jerry ...«
»Melvin, Mr. Wintersleep.«
Harold möchte nicht mehr Mr. Wintersleep heißen. Er möchte auch kein Huhn mehr sein. Auch kein vollgekotztes. Er möchte nach Hause.
»Alles in Ordnung?«
Nein.
»Ja, bestens, ich hätte da noch ...«
»Ist das nicht eine großartige Party?«
Nein.
»Sehr, da wäre ...«
»Ihr amüsiert euch doch?«
Bitte?
»Überaus, aber ich ...«
»Möchtet ihr nicht etwas trinken?«
»Jerry!« Melvins Stimme bricht in der hohen Tonlage. Sie zischt wie eine Messerklinge durch die Luft. Selbst Harry Belafonte wirkt ein wenig bleich.
»Melvin?«
»Da wäre noch eine Frage.«
»Bitte.«
»Hatten Sie jemals sexuelle Beziehungen mit einer Frau?«
Ein einfaches Ja reicht. Nie wieder Jeremiah Newsom. Nie wieder Melvin. Endlich wieder Bridge.
»Bitte?«
Falsch.
»Hatten Sie jemals sexuelle Beziehungen mit einer Frau?«
Zweite Chance.
»Um Himmels willen: Nein.«
Es sind nur drei Schritte bis in den Swimmingpool.
Drei.
Zwei.
Eins.
Platsch.
Das Wasser saugt sich hastig in das schwere Gefieder und zieht den Körper wie ein U-Boot hinunter. Die himmelblauen Fliesen auf dem Grund haben ein Muster, und in dem Muster flimmern Gestalten. Es sind griechische Sportler aus der Antike. Sie werfen mit Speeren und Disken, sie springen, laufen und balgen wie große Kinder. Zwei Ringer im Zentrum des Schauspiels sind in fester Umklammerung auf ewig miteinander verbunden, schwer gebeugt von der Last auf ihren Schultern. Schön sieht das aus, sehr schön. Ganz, ganz schön. Wie spät ist es? Wasser dringt in die Luftröhre, kleine Bläschen fliehen nach oben als würde dort jemand auf sie warten. Ein Trugschluss. Niemand wartet. Nichts wartet. Die Zeit steht nicht still. Sie hat zu tun. Rund um die Uhr. Auch am Wochenende. Chlor. Das Wasser schmeckt bitter. Wie die Medizin damals, gegen die Lungenentzündung. Weil das Eis zu dünn war und brach und es kälter war als in Onkel Williams Tiefkühltruhe, in die er immer seine Rehe legte, die er schoss und die ganz steif wurden. Wie geht’s Mutter? Lange nicht gesehen. Nur noch einmal wach werden. Gute Nacht.
Mittwoch
33
Seit zwei Stunden stülpt ein trüber Nieselregen träge Schleier über die Gemüter. Gedanken schwirren ziellos umher, Kleinigkeiten locken sie in völlig neue Gegenden, in denen es auch nicht besser ist, nur anders. Der Scheibenwischer schliert tumbe Landschaften auf die Windschutzscheibe, die von innen beschlägt. Alle Scheiben sind beschlagen, die Lüftung hat längst aufgegeben, sie knurrt nur noch monotones Unvermögen vor sich hin. Melvin zeichnet mit dem Finger kleine Hieroglyphen in die Feuchtigkeit, Zeichen, die kyrillischen Buchstaben ähneln, nur etwas unheimlicher. Die Buchstaben geben einen schmalen Blick nach draußen frei, doch auch dort ist die Welt nur eine graue Dunstglocke, in der sich schemenhaft die Strukturen ändern. Schon am Morgen zeigte sich das Wetter schlecht gelaunt – bei der Verabschiedung, als Melvin sich bedankte, dass sie Harold aus dem Swimmingpool gezogen hatten und sie vor Ort übernachten durften. Und Melvin versprach, ihn, Daniel Sutcliffe, den Deflorationsexperten und Börsenguru, lobend in der Reportage zu erwähnen, namentlich und auch mit Ferrari. Das Frühstück allerdings war mäßig. Und an Jerry hat Melvin keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Nun ist es an der Zeit, die Konzentration voll und ganz auf die
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