Harold - Einzlkind: Harold
als die heimische Unterschicht und Teutonen in Gesundheitssandalen Ferry Cross the Mersey durch ihre schundbeladenen Kehlen schmetterten, tippte Melvin dem neben ihm stehenden deutschen Touristenpaar in den Vierzigern auf den Bauch und fragte, ob sie, anstatt zu singen, doch lieber wieder Bomben werfen könnten, da völkische Talente vielleicht ungerecht, wie einzuwenden wäre, so aber doch eindeutig verteilt seien. Das deutsche Touristenpaar aber schwäbelte alttestamentarische Verwünschungen, nahm das fremde Liedgut wieder auf und erklomm Tonlagen, die selbst ein unter Vollbremsung die Gleise verlassender Schnellzug nicht ohne das komplette Programm der Verwüstung zu lärmen vermag. Vor hundert Jahren hätte man ihnen in den Albert Docks die Kehlen durchgeschnitten, heutzutage dürfen sie zur Belohnung auch noch weltkulturerben. Da spreche noch jemand von Fortschritt.
Und nun sind sie schon fast eine Stunde lang wieder unterwegs, und Liverpool zeigt sich von seiner einnehmenden Seite. Es hat aufgehört zu regnen und die Sonne bricht durch die undichten Stellen der grummelnden Wolkenberge. Gemalte Lichtkegel strahlen die viktorianischen Bankgebäude, die rotbackigen Häuserfassaden, das Grand Plaza und die St George’s Hall an, als habe Caravaggio persönlich den Pinsel geschwungen. Die malerische wie auch ungeplante Stadtrundfahrt verdanken sie großflächigen Baustellen, die mit kruden Umleitungsschildern Wege der Torheit weisen und Namen wie Lord Nelson, Mount Pleasant oder Great Howard tragen. Wenig hilfreich ist auch Harolds sanftmütige Hochachtung vor den Regeln der Straßenverkehrsordnung. Melvin ist ob dieser ausgeprägten Neigung zur obsessiven Hörigkeit keineswegs amüsiert, denn rote Ampeln und Einbahnstraßen sind für ihn nur ein weiterer Beleg für die existenzielle Notwendigkeit eines atomaren Erstschlags und gerne würde er selbst Hand anlegen und wie James Bond mit 200 Sachen über Straßen und Bürgersteige fegen, durch Gemüsestände und Schaufenster rumpfen, von Brücken springen und durch U-Bahn-Schächte tunneln, aber im Radio läuft gerade Cat Stevens mit Father and Son . Nicht, dass Melvin dieser Kitsch in irgendeiner Art und Weise berühren würde, dass der schwere Dunst der Melancholie sein Haupt umwölken und seine anatomisch unauffindbare Seele trauern ließe, nein, solch volkstümliche Idiosynkrasie käme ihm nie in den Sinn, er versucht nur zu verstehen, warum eine süßlich-sentimentale Melodie, gepaart mit altherrenden Weisheiten, außer geringschätzige Verachtung überhaupt etwas bewirken sollte und warum sich die winzigen Haare auf seinen Unterarmen aufrichten.
Harold hat Melvins fröstelnde Stimmung bemerkt, denn seit sie die Metropolitan Cathedral passiert haben und auf der Hope Street der blechernen Kolonne in Richtung Windsor Street folgen, ist Melvin in eine Art Starre verfallen, die üblicherweise der unwiderruflichen Leblosigkeit vorbehalten ist. Harolds Aufmunterungsversuch, indem er den Scheibenwischer betätigt, obwohl es gar nicht mehr regnet, scheitert kläglich. Das Hupen der Nationalhymne wäre, verspräche es Erfolg, gewiss einen weiteren Versuch wert, doch es gibt Dinge, über die selbst Harold nicht zu springen vermag. Gleichwohl die Bürde, in solch jungen Jahren nicht zu wissen, wer der eigene Vater ist, durchaus Empathie erzeugt. Ein Kümmernis, ja, voller Zweifel und Hoffnungen, das Ungewisse als treuer Begleiter, die Unruhe als ewiges Nagen. Für einen Augenblick möchte Harold all die Unannehmlichkeiten dieser Reise vergessen und das Gefühl der Zuversicht vermitteln, um Trost und Mut zu spenden, in einer Welt, die nie eine andere war als die der Schändung. Und gerne würde er jetzt weinen, er weiß nur nicht wie.
36
»Wir gehen einfach hintenrum.«
Harold findet nicht, dass sie einfach hintenrum gehen sollten. Das Haus mit der blitzblanken weißen Klinkerfassade sieht sehr teuer aus und die Bewohner mögen es bestimmt gar nicht, wenn man einfach hintenrum geht, auch wenn das Tor weit offen steht und der Garten liebevoll einladend gestaltet ist. Aber Melvin stromert schon um die sorgsam geschnittene Buschhecke herum, an den Rosensträuchern entlang, bis er vor einer drei mal drei Meter großen Fensterfront seitlich in Deckung geht. Er stiert durch die halb offenen Vorhänge aus türkisfarbenem Damast. Harold bleibt nichts anderes übrig, als es Melvin gleichzutun. Es ist nicht besonders hell, nur eine schlanke Stehlampe verströmt ein diffuses
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