Harold - Einzlkind: Harold
Licht in dem großzügigen Raum. Die wuchtigen Möbel prunken und protzen auf dem frisch gebohnerten Parkett, meterhohe Palmengewächse pflanzen sich in goldig verzierten Töpfen fort und allerorten sorgt tönernes Getier für ungläubiges Staunen. Was für Menschen mögen in dieser Sammelstelle des Klimbims wohnen? Ein Mann sitzt auf einem antiken, in blumigem Dekor gehaltenen Stuhl. Der Mann ist leicht untersetzt, er hat eine Halbglatze, auf der selbst im trüben Licht kleine Schweißperlen zu erkennen sind. Seine Hände halten unnatürlich die Armlehnen fest. Ein zweiter Mann steht keinen Meter entfernt von ihm, er geht kurze Wege langsam auf und ab und scheint einen Monolog zu halten. Sein trainierter Körper wird von einem maßgeschneiderten schwarzen Anzug bekleidet. Das strahlend weiße Hemd spannt sich straff über den kleinen Bauchansatz, die oberen beiden Knöpfe sind geöffnet, um die exquisite Brustbehaarung zur Geltung zu bringen. Sein dunkles volles Haar ist nach hinten gekämmt, einzelne Strähnen fallen vor sein gemeißeltes Gesicht und wenn seine braunen Augen im Fensterglas reflektieren, gefriert die Welt für einige Sekunden.
Es könnte Jeremiah Al-Kasim sein. Ein dritter Mann steht etwas Abseits an einer Tür gelehnt, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Auch er trägt einen dunklen Anzug, doch sind seine Proportionen von solcher Urwüchsigkeit, dass jeden Moment alle Nähte zu platzen drohen. Vielleicht ist es der Butler. Stimmen sind nicht zu hören, die Fenster sind vierfach verglast und halten dicht, manchmal nur dringen Paukenschläge durch und Violinen, die zu epochalen Klangteppichen anschwellen, bis sie plötzlich ohne Vorwarnung wieder verstummen und nur der eigene Atmen noch zu hören ist. Der Butler verschwindet in die halboffene Küche, er sucht etwas in den Schubladen, er kommt mit einem Beil wieder zurück und stellt sich vor den sitzenden Mann. Er nimmt dessen linke Hand und spreizt den kleinen Finger ein Stück weit auseinander. Es sieht so aus, als wolle er maniküren. Aber warum mit einem Beil?
Der Mann auf dem Stuhl scheint etwas sagen zu wollen, wahrscheinlich findet auch er es merkwürdig, dass der Butler seine Hände auf diese doch recht grobmotorische Weise aufzuhübschen gedenkt. Vielleicht eine arabische Tradition? Der Butler hebt das Beil. Im Gegenlicht blinkende Reflektionen künden von Ungemach. Das Beil saust schwungvoll hinunter und trennt den kleinen Finger der linken Hand ab. Ein sauberer Schnitt. Professionelle Arbeit. Der Finger fliegt in Richtung Fenster. Direkt auf Harold zu. In Zeitlupe. Wie ein Bumerang dreht sich der Finger im Flug um die eigene Achse. Kleine Blutkörper perlen von der Schnittkante ab und tanzen durch den Raum. Kurz bevor der Finger Harolds Kopf erreicht, ploppt er gegen das Fenster und fällt zu Boden. Harold plumpst nach hinten und reißt einen tönernen Blumenkübel mit sich, der in kleine Teile birst und einen Heidenlärm verursacht.
Die Aufmerksamkeit der Männer ist nun uneingeschränkt auf Harold und Melvin fokussiert.
Es gibt Momente, in denen selbst Melvin nicht so gerne der Mittelpunkt einer Gesellschaft ist. Er winkt verhalten mit seinem rechten Arm, er weiß nicht recht, warum er das tut, aber er hat das Gefühl, dass eine freundliche Geste die ungemütliche Situation ein wenig entspannen könnte. In einer unheimlich wie unmenschlich kurzen Zeitspanne stürmt der Butler heran, reißt die Vorhänge auseinander, öffnet das Schiebefenster und packt Melvin und Harold am Schlafittchen, um im nächsten Moment reglos zu verharren. Harold findet, dass dies der geeignete Zeitpunkt ist, ein Held zu sein. So wie Burt Lancaster in Der rote Korsar . Harold entscheidet sich dann aber doch lieber für einen Herzinfarkt. Ganz spontan.
»Gäste?«, tönt eine tiefe Stimme aus der Mitte des Raums, in der sich der zweite Mann, der Jeremiah Al-Kasim sein könnte, im Halbschatten der Stehlampe eine Zigarette anzündet.
»Nur ein Missverständnis, fehlende Orientierung, beachten Sie uns gar nicht weiter, wir sind schon wieder weg«, sagt Melvin. Harold nickt vorsichtig ob der völlig schlüssigen Erklärung, außerdem hat er sowieso nichts gesehen, und auch daran kann er sich nicht mehr erinnern, Amnesie im Endstadium, unheilbar.
»Tretet ein.«
»Liebend gerne, aber wir haben Termine, die wir nicht verschieben können, so leid es uns tut. Wir kommen auf Ihre Einladung aber gerne zurück, sobald es sich irgendwie einrichten lässt.«
»Ali.«
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