Harold - Einzlkind: Harold
nächste Zielperson zu fokussieren. Noch fünfzehn Kilometer bis Birkenhead
Über Jeremiah Newsom Nummer vier hat Melvin vergleichsweise viel in Erfahrung bringen können. Der Vater, ein Araber aus dem Libanon, die Mutter, eine Engländerin aus Bristol. Unehelich geboren und nie anerkannt, da eine Nicht-Muslima als Mutter seitens der väterlichen Familie nie akzeptiert worden wäre. Nach der Geburt des zweiten Kindes, ein Mädchen, hatte sich der Vater freiwillig der Hisbollah angeschlossen, um im Namen Allahs seine Eingeweide auf ungläubigen Straßen zu verteilen. Der durchschlagende Erfolg seines Unterfangens ermöglichte es Jeremiah Newsom als Halbwaise aufzuwachsen und auf dem harten Pflaster Bristols die schmerzhaften Facetten von Ehre und Respekt kennenzulernen. Die Mutter brachte beide Kinder so gut es eben ging über die Runden und versuchte, sie nach den moralischen Maßstäben der baptistischen Kirche, der sie tiefen Glauben und kleine Ersparnisse schenkte, zu erziehen. Der junge Jeremiah Newsom aber brach frühzeitig die Schule ab und interessierte sich zeitweise für Gefängniszellen, die er hier und da besuchte. Die langwierigen Prozesse der Aufenthaltsgenehmigungen erarbeitete er sich durch Schlüsselqualifikationen wie Mut, Stärke und Durchsetzungskraft, Eigenschaften, die ihn für schweren Diebstahl und räuberische Erpressung prädestinierten. Mit 21 zog Jeremiah Newsom nach Liverpool und nahm den Nachnamen seines Vaters an. Als Jeremiah Al-Kasim brachte er es binnen zehn Jahren zu lokaler Prominenz in einschlagenden Kreisen. Heute ist er Geschäftsführer einer Im- und Export-Firma, die sich insbesondere auf den Im- und Export konzentriert.
Melvin erwartet Vito Corleone. Mindestens. Harold erwartet eher gar nichts. Erwartungen, so hat er gelernt, enden nur in neuen Hoffnungen, die über die Enttäuschungen des Geschehenen hinwegtrösten sollen. Jedes Jahr hatte er gehofft, Mutter würde seinen Geburtstag vergessen. Sie hat ihn nie vergessen, und jedes Jahr gab es eine Überraschungsparty, die Harold erwartet hatte. Und jedes Jahr aufs Neue hoffte er, sie werde nicht so schlimm wie die im Jahr zuvor. Und jedes Jahr wurde er enttäuscht. In der Regel fand sich die gesamte Familie ein, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, ersten, zweiten und dritten Grades. Freunde kamen nicht, Harold hatte keine Freunde. Dafür Nachbarn. Wie Mr. Palawahan. Mr. Palawahan kam ursprünglich aus Sri Lanka. Nachdem die Singhalesen zum wiederholten Male sein Haus und sein Auto ausgebrannt hatten, bürgerte er um und baute innerhalb weniger Jahre einen hochgradig florierenden Bügelservice auf. Mit 27 Filialen. Seinen größten Ehrgeiz aber schien er zu entfalten, wenn es um Harolds Geburtstag ging. Keiner wusste im Grunde genau warum. Es war einfach so. Eine Mariachi-Kapelle der örtlichen Putzkolonne, die sich ob der falschen Tonart massenschlugen, die 44 Pudel aus Rudys Hundeschule, die auf zwei Beinen stehend Harold in den Schnee zu pinkeln versuchten, und die Häkelgruppe des Hubertus Altenpflegeheims, die Happy Birthday im Triangel-Quartett schepperte, waren noch die geringsten Vergnügen, welche er sich leistete.
Das größte Ungemach indes hörte auf den Namen Lolita, die von Amts wegen Natascha hieß und eine 58-jährige Pornodarstellerin aus der Ukraine war. Mr. Palawahan hatte eine zwei Meter hohe Torte aus Pappmaché anfertigen lassen, aus der Lolita sich mühevoll zu Frank Sinatras My Way befreite, wobei sie ihre blonde Langhaarperücke an das Sahnehäubchen verlor. Sie wankte hochprozentig aber zielgenau auf Harold zu, entledigte sich ungelenk der halbseidenen und ihrer Meinung nach unnötigen Garderobe, bis nur noch fleischfarbene Wäsche die Scham des Lebens bedeckte, stolperte auf dem vom Regen aufgeweichten Boden in den Gabentisch, zwang sich vor imponierten Zeitzeugen mit übermenschlicher Kraft wieder hoch und erreichte das auf einem Stuhl weilende Geburtstagskind, um auf dessen gebügelter Hose mit formvollendeter Falte einzuschlafen. Was also sollte Harold von einem arabischstämmigen Kleinkriminellen aus Liverpool erwarten? Dass er in seiner Freizeit Atombomben mit Schokoladenüberzug und Mandelsplittern sammelt und in die jubelnde Menge wirft?
Das Leben ist kein Wunder, mal abgesehen von selbstklebenden Briefmarken, es hat nur ein Verfallsdatum und eine Tankanzeige.
Die Tankanzeige. Die Tankanzeige leuchtet.
Sie müssen tanken. Müssen Sie? Warum das Alarmsignal nicht einfach übersehen, warum
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