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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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nicht einfach stehen bleiben, mitten im Nichts, und sich am Ende der Reise erfreuen, im Regen eine entzückende Lungenentzündung holen und die letzten Tage in einem weichen Bett genießen?
    »Wir müssen tanken.«
    34
    Die Tankstelle sieht nicht nach einer Kette aus. Auf den ersten Blick. Sie sieht aus, als habe jemand, unvorsichtig und naiv, ein Zeitfenster in die Vergangenheit geöffnet, so, als würde jeden Moment Cary Grant mit einem 55er Buick Roadmaster vorfahren. Auf den zweiten Blick sieht sie aus, als wäre Norman Bates ihr Inhaber. Zwei rostige Streben halten zitternd das bröckelnde Vordach, an dem ein Schild mit der schwungvollen Aufschrift »Walden Brothers« baumelt und den Besitzern, so sie noch besitzend sind, einen Hauch von Nonchalance verleiht. Die Zapfsäulen waren einst rot, letzte Farbreste halten sich tapfer, doch länger als einen Winter werden auch sie nicht bleiben, die Witterung würde das nicht zulassen, schon aus Prinzip nicht. Die Säule mit Normal-Benzin hat eine Delle in der Größe eines Fußballs und der schwarze und an einigen Stellen poröse Schlauch windet sich auf dem nassen, von herbstlichen Blättern benetzten Boden.
    Immerhin: Der Hahn hängt eingerastet an der für ihn gestählten Vorrichtung. Harold zieht ihn aus der Verankerung, steckt ihn in die Tankmulde, drückt das Einrasthäkchen herunter und wartet. Ein Wimmern aus der Tiefe des Erdkerns wächst zu einem fabelhaften Grollen an, doch anstatt in einer gewaltigen Eruption zu münden geht das Grollen in ein stotterndes Glucksen über, welches auch Säuglinge stillendhalber zu Tage fördern. Die Anzeigen setzen sich in Bewegung und das mechanische Klacken beim Umblättern der Zahlen wirkt beinahe beruhigend. Warum aber ist keine Menschenseele zu sehen? Warum ist das Tankwarthäuschen unbeleuchtet und mit heruntergelassenen Jalousien vor allzu neugierigen Blicken geschützt? Und warum heißen die Walden Brothers Walden Brothers und nicht Shell oder BP? Können sich Orte im Raum-Zeit-Kontinuum verirren und wenn ja, warum muss es dann regnen? Die nieselnde Feuchtigkeit legt sich zwanglos auf die Kleidung, kriecht hindurch und hinterlässt fröstelndes Unbehagen. Melvin ist nur mäßig erfolgreich, die beschlagenen Brillengläser mit seinem Zeigefinger frei zu wischen. Ein rostiges Quietschen. Die Zahlen stehen still. 43 Pfund. Noch ein Geräusch, wie von einem 80er-Jahre Nadeldrucker, ein Zettel fällt aus einer kleinen Öffnung, Melvin fängt ihn auf, bevor das dünne Papier den Boden erreicht. Er dreht den Kassenbon herum, aber es stehen keine Zahlen drauf, es sind nur Worte: Dass der Mensch sich nach Lust und Laune von einem Automobil überfahren lassen kann, ist eine Errungenschaft der Zivilisation. Er hat es sich verdient. Melvin versteht nicht, warum nun selbst Tankwarte sich zur Prosa berufen fühlen, warum Oktanzahlen und pampige Sandwiches in Frischhaltefolie sie nicht mehr ausfüllen. Der Wind wird stärker und zu leichte Blätter tanzen über die immer größer werdenden Pfützen. Melvin dreht sich nach links, nach rechts, immer noch keine Menschenseele, er geht ein paar Schritte um das Tankwarthäuschen herum, irgendwo muss Leben sein.
    Keine zwanzig Meter entfernt steht noch ein Gebäude, ein Flachbau, die beiden Tore sind halb geöffnet, ein schwaches Licht dringt heraus, ein Fiepen, eine Rückkopplung, eine Stimme: »Lieber Fleisch als gar keine Tomaten.« Keine fünf Meter mehr, Melvin erkennt einen Mann, der in einem Sessel sitzt und auf einen Fernseher starrt. Der Mann ist um die vierzig, sein spärliches blondes Haar ist wüst verkämmt, er ist wohlgenährt, mit der rosigen Haut eines Kleinkindes und dem eingefrorenen Blick einer Rosebud-Puppe. Er trägt eines dieser blauen amerikanischen Arbeiterhemden mit Namen auf der Brust. Sein Name ist Jim.
    »Hallo, sind Sie hier der Tankwart?«
    Keine Reaktion. Jim schaut sich einen Fischfilm an. Es scheint eine Langzeitdokumentation über ein Aquarium zu sein. Fische aller Couleur schwimmen in einer künstlichen Unterwasserwelt hin und her, deren liebevoll kopierte Miniaturen von meisterlicher Choreografie zeugen.
    »Hallo?«
    Keine Reaktion. Jim nimmt Signale außerhalb des Fischfilms nicht wahr. Auf seinem Schoß liegt einer dieser bunten Kassettenrecorder mit blau-rotem Mikrofon für Kinder ab drei Jahre. Er streichelt mechanisch das Gehäuse, drückt auf einen gelben Knopf, führt das Mikrofon an seinen Mund, Fiepen, Rückkopplung.
    »Lieber Einzelkind als gar

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