Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
hatte das Thema wieder auf die Gegenwart
gebracht und beendete damit unsere ursprüngliche Unterhaltung.
»Nein«,
sagte ich. »Ich muss bei der Leiche sein.« Allerdings hatte ich nicht die
geringste Lust darauf. Es ist äußerst unangenehm, den Tod von jemandem
nachzuerleben, den man gekannt hat.
»Die
Staatspolizei hat die Ermittlungen übernommen«, sagte Hollis, nachdem er seinen
Eimer mit Unkraut geholt hatte. »Ich bin jetzt nur noch fürs Telefon zuständig.
Es gibt eine Hotline.«
Ich brauchte
einen Moment, bis ich begriff, dass man ihn von den Ermittlungen abgezogen
hatte.
»Das ist ja
gemein«, sagte ich mitfühlend. Ich habe genügend Polizisten kennengelernt, um
zu wissen, dass die guten am liebsten ganz vorn mit dabei sind.
Er zuckte
die Achseln. »Wie man's nimmt. Ich bin schließlich nur ein Teilzeitpolizist.«
»Sie war
Ihre Schwiegermutter.«
»Ja«, sagte
er bedeutungsschwer. »Die warten auf Sie.«
Da ich auf
einem Grab stand, dachte ich einen Moment lang, er meinte die Toten. Und dass
sie auf mich warten, weiß ich bereits. Erst dann begriff ich, dass die wahre
Bedeutung seiner Worte wesentlich banaler war. Der Anwalt, Paul Edwards, und
ein Mann in Uniform, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, standen neben dem
Auto und redeten mit Tolliver. Ich war froh, dass ich meine Schuhe angelassen
hatte. Ich atmete tief durch und ging auf die Männer zu.
»Viel
Glück«, sagte Hollis, und ich nickte. Ich wusste, dass er uns beobachten würde,
und er würde etwas zu sehen bekommen.
Die Zeit,
die wir auf dem Polizeirevier verbringen mussten, war nicht sehr angenehm. Der
Staatspolizist hielt mich für eine widerliche Blutsaugerin. Ich hatte schon so
was erwartet, als wir in die Stadt fuhren, aber es machte mir trotzdem zu
schaffen. Ein Männergesicht folgte auf das nächste: dünne, dicke, weiße,
schwarze, intelligente, unterbelichtete. Sie alle hatten ein und dieselbe
Meinung von mir und gaben sich nicht einmal die Mühe, sie zu verbergen. Ich
glaube, sie hielten Tolliver für eine Art Zuhälter der widerlichen
Blutsaugerin.
Ich mag es
nicht, wenn man mich als Trickbetrügerin behandelt, und Tolliver bestimmt noch
viel weniger. Ich ziehe mich dann in mich selbst zurück und versuche mir nichts
anmerken zu lassen. Tolliver versucht genau dasselbe, was ihm allerdings meist
nicht gelingt. Es regt ihn eben auf, wenn man unser Ehrgefühl verletzt.
»Wir haben
uns Ihre Akte angeschaut«, sagte ein dünner Mann mit Windhundgesicht und
kalten, zusammengekniffenen Augen. Der Verhörraum war klein und beige. Tolliver
hatte man in einen Nebenraum geführt.
Ich atmete
tief durch und fixierte die Wand hinter seinem Ohr.
»Sie und Ihr
›Bruder‹ sind schon viele Male polizeilich verhört worden«, sagte er. Auf
seinem Namensschild stand Green. Er schwieg, um sicherzustellen,
dass ich bemerkt hatte, dass er das Wort »Bruder« verbal in Anführungszeichen
gesetzt hatte.
Da seine
Bemerkung keine unmittelbare Antwort erforderte, schwieg auch ich eine Weile.
»Aber noch
hat Sie niemand hinter Gitter gebracht.«
Auch das war
eine unbestreitbare Tatsache, und ich schwieg erneut.
»Obwohl das
sicherlich angebracht wäre.«
Eine
Meinungsäußerung, die ebenfalls keiner Antwort bedurfte. Meine Eltern waren
nicht umsonst Anwälte gewesen.
»Wissen Sie,
was man da, wo ich herkomme, über Leute wie Sie sagt?«, meinte Green. »Leute,
die zu Familientreffen gehen, um dort nach einem Partner Ausschau zu halten?«
Ich konnte
nur annehmen, dass Green aus einer anderen Gegend kam, und lehnte mich weiter
in meinem Plastikstuhl zurück.
»Sie und Ihr
Bruder sind vermutlich genau solche Leute«, sagte er mit einem höchst
unangenehmen Lächeln.
Noch eine
Meinungsäußerung, noch dazu eine, von der er eigentlich wissen musste, dass sie
falsch war.
»Er ist
nicht wirklich Ihr Bruder, stimmt's?«
»Mein
Stiefbruder«, sagte ich.
Er wirkte
überrascht. »Aber Sie stellen ihn als Ihren Bruder vor.«
»Zur
Vereinfachung.« Ich schlug meine Beine andersherum übereinander, nur so zur
Abwechslung. Ich hätte jetzt gern etwas zu Mittag gegessen. Tolliver und ich
gingen meist ins Restaurant oder kauften etwas ein, das man in der kleinen
Mikrowelle erhitzen kann, die wir immer dabeihaben und in unseren Motelzimmern
anschließen. Wir hatten überlegt, ein kleines Haus außerhalb von Dallas zu
kaufen. Dort würden wir eine größere Mikrowelle haben. Vielleicht würde ich
auch kochen lernen. Außerdem putze ich gern.
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