Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
Vielleicht mag ich nicht gerade
das Putzen an sich, aber das Ergebnis. Dann könnte ich auch eine Zeitschrift
abonnieren, was mir aus praktischen Gründen bisher immer verwehrt geblieben
war. Vielleicht den National Geographica Wenn wir dann erst mal in unser Haus
gezogen wären, würden Tolliver und ich im Dezember einen Weihnachtsbaum kaufen.
Ich hatte schon seit zehn Jahren keinen Weihnachtsbaum mehr gehabt.
»... hören
Sie mir überhaupt noch zu?« Das Gesicht von Windhund Green war wutverzerrt.
»Nein. Ich
würde jetzt gerne gehen. Sie wissen ganz genau, dass ich die arme Frau nicht
umgebracht habe, und auch, dass Tolliver es nicht war. Es gibt überhaupt keinen
Grund, warum wir ihr etwas antun sollten. Sie können mich bloß nicht leiden.
Aber dafür können Sie mich schlecht ins Gefängnis stecken.«
»Sie
profitieren vom Leid anderer Menschen.«
»Inwiefern?«
Er starrte
mich an. »Die Leute trauern, sie wollen mit der Sache abschließen. Und dann
tauchen Sie und Ihr Bruder auf wie die Aasgeier, um sich an der Leiche gütlich
zu tun.«
»Von
wegen!«, sagte ich barsch. Auf diesem Gebiet kannte ich mich aus. »Ich finde
die Leiche. Erst darin können die Angehörigen mit der Sache abschließen. Es
hilft ihnen.« Ich erhob mich und spürte, wie es nach dem langen Sitzen in
meinen Beinen kribbelte. »Wir bleiben in der Stadt, solange Sie wollen. Aber
wir haben Helen Hopkins nichts zuleide getan, und das wissen Sie auch.«
Er erhob
sich ebenfalls und suchte krampfhaft nach einem Vorwand, um mich am Gehen zu
hindern, um mich wegen irgendeines Vergehens hinter Gitter bringen zu können.
Aber da war einfach nichts zu machen, er musste tatenlos zusehen, wie ich den
Raum verließ. Ich klopfte an die Tür des Nebenzimmers. »Tolliver«, rief ich.
»Lass uns gehen.«
Kurz darauf
öffnete Tolliver die Tür und verließ den Raum. Ich blickte zu ihm hoch und sah
blanke Wut in seinen Augen. Ich legte ihm sanft eine Hand auf die Wange, und er
entspannte sich wieder. Gemeinsam verließen wir das winzige Polizeirevier von
Sarne und gingen zu unserem Wagen. Die Wiese um das Gerichtsgebäude herum
begann braun zu werden, und die großen Blätter des Silberahorns wirbelten
darüber hinweg.
Als ich
einem davon mit meinen Blicken folgte, entdeckte ich Mary Nell Teague. Sie
schien eindeutig auf uns zu warten, besser gesagt auf Tolliver. In ihren Augen
war ich sein bloßer Schatten. Sie hatte ihren kleinen Wagen direkt neben
unserem geparkt, was sicherlich nicht einfach gewesen war. Es war Samstag und
einiges los in der Stadt.
Eine Gruppe
von Jungs hatte sich um das Kriegerdenkmal versammelt. Mit ihren Jeans,
T-Shirts und Turnschuhen hätten sie von überall aus den Vereinigten Staaten
stammen können. Vielleicht waren ihre Frisuren nicht gerade der letzte Schrei,
aber das störte hier niemanden. Ich hätte sie keines weiteren Blickes
gewürdigt, wenn ich nicht bemerkt hätte, dass sie uns beobachteten. Sie wirkten
nicht besonders freundlich. Der Größte starrte von Neil zu Tolliver.
»Hm«, sagte
ich, um Tolliver auf die Jungs aufmerksam zu machen.
»Diese
Psychos sind doch echt Scheiße«, sagte der größte Junge so laut, dass wir es
hören konnten, was natürlich beabsichtigt war. Er gehörte bestimmt zum
Footballteam, vielleicht war er sogar Klassensprecher. Er war das Alphatier,
gutaussehend und durchtrainiert. Außerdem trug er Turnschuhe, die sicherlich
mehr gekostet hatten als alles, was ich am Leibe trug. »Leute, die behaupten,
mit den Toten zu reden, sind vom Teufel besessen«, sagte er noch lauter. Mary
Nell stand wahrscheinlich zu weit weg, um zu hören, was er sagte, aber sie
blickte immer wieder zwischen den Jungs und uns hin und her und wirkte
abwechselnd entrüstet, entsetzt und nervös. Wahrscheinlich hatten wir es hier
mit einer kleinen Dreiecksbeziehung zu tun: mit dem Alphajungen, Mary Nell und
Tolliver. Nur dass Tolliver von alldem nicht das Geringste mitbekam.
Ich wurde
zunehmend nervös. Die Jungen schlenderten langsam in unsere Richtung. Tolliver
hatte die Wagenschlüssel aus der Hosentasche gezogen und entriegelte schon mal
aus der Ferne die Türen.
Mary Nell
kam auf uns zugesaust, bevor uns die Jungen erreichten. »Hey, Tolliver«, sagte
sie strahlend und berührte ihn am Arm. »Oh... hallo, Harper.« Ich versuchte,
nicht über meine Deklassierung zu lachen. Was mir deutlich leichter fiel, als
ich sah, dass wir um eine Konfrontation mit den Jungs nicht herumkommen würden.
Der Alphajunge
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