Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
Die hätte ihn umgebracht.«
Als sie
merkte, was sie da eben gesagt hatte, lief Mary Nell ganz rot an. Tränen traten
in ihre Augen.
»Ist schon
gut«, sagte ich hastig. »Wir wissen, dass deine Mom so etwas nie getan hätte.«
»Na ja, Mom
hat Teenies Mutter nie besonders gemocht. Warum, weiß ich auch nicht. Miss
Helen hat vor Jahren mal für uns gearbeitet, und ich fand sie wahnsinnig nett.
Sie hat die ganze Zeit gesungen.«
Ich sah, wie
ihr plötzlich klar wurde, dass Helen Hopkins ebenfalls umgebracht worden war.
Mit einem Mal sah sie vollkommen verloren aus, wie eine Ertrinkende.
»Wenn ich
jeden umbringen würde, der mir nicht passt, könnte ich mich mit ihren Skalps
neu einkleiden«, sagte Tolliver.
Daraufhin
musste Mary Nell kichern und schlug ihre kleine Hand vor den Mund.
Ob man
Teenies Schwangerschaft nach so langer Zeit noch bei der Autopsie feststellen
konnte?
»Dell hat
also nur dir davon erzählt?«, fragte ich.
»Außer mir
wusste niemand etwas«, sagte Mary Neil stolz.
Mary Nell
war sich sicher, dass ihr Bruder niemandem etwas von dem Baby erzählt hatte,
aber was war mit Teenie? Hatte sie irgendjemanden ins Vertrauen gezogen? Ihre
Mutter vielleicht?
Ihre Mutter,
die... puh... ebenfalls tot war.
6
Nachdem ich
mit Tolliver ein paar kurze Blicke getauscht hatte, wechselten wir schnell das
Thema. Mary Neils trauriges, fast schon in Tränen aufgelöstes Gesicht hatte
bereits die Aufmerksamkeit der wenigen Gäste erregt. Ihre Laune verbesserte
sich jedoch schnell wieder, als sie von angenehmeren Themen sprach, wobei sie
sich fast ausschließlich mit meinem Bruder unterhielt. Tolliver erfuhr, dass
Nell vorhatte, im nächsten Jahr auf die Universität von Arkansas zu gehen. Dass
sie Physiotherapeutin werden wollte, um Leuten zu helfen, dass sie
Cheerleaderin war und kein Mathe mochte. Ihr Cheerleading-Sponsor war total
cool.
In der
Zwischenzeit machte ich mir so meine eigenen Gedanken. Mary Nell wirkte nicht
groß anders auf mich als die anderen Mädchen, die ich in der Highschool
kennengelernt hatte. Mädchen, deren Eltern clean waren, Mädchen, die genügend
Geld hatten, um sich Probleme und Obdachlosigkeit vom Leib zu halten. Sie war
klug, aber nicht brillant, sie war noch Jungfrau, aber keine Heilige. Der
Verlust ihres Bruders hatte sie stark verunsichert, sie suchte nach einer neuen
Identität, nachdem ihre alte bis ins Mark erschüttert worden war. Ich konnte
sehen, wie verstört Mary Nell gewesen war, als sie von dem geheimen Leben ihres
Bruders mit Teenie erfahren hatte, bis dieser Schock von dem noch größeren
Trauma durch Dells Tod überdeckt worden war. Dass sie das Geheimnis ihres
Bruders endlich jemandem hatte anvertrauen können, schien Mary Nell Teague
sichtlich zu entlasten. Dass sie es Wildfremden anvertraut hatte, störte sie
dabei offensichtlich nicht.
Das Mädchen
war vollkommen fasziniert von Tolliver. Da sie beliebt, hübsch und ein Teenager
war, nahm Mary Nell automatisch an, dass Tolliver sie ebenfalls faszinierend
fand. Ich sah zu, wie Mary Nell unbeholfen Konversation machte und verzweifelt
versuchte, Tolliver klarzumachen, dass sie eine Frau war. May Nell erzählte
gerade eine Anekdote über ihren Lehrer, merkte aber, dass das ein Thema für
Kinder war, und bemühte sich angestrengt etwas zu finden, das einen älteren
Mann interessieren könnte.
»Sind Sie
aufs College gegangen?«, fragte sie Tolliver.
»Ja, zwei
Jahre lang«, sagte er. »Anschließend habe ich eine Weile gearbeitet. Danach
begannen Harper und ich mit unserer Reisetätigkeit.«
»Warum
suchen Sie sich keinen richtigen Job und schlagen Wurzeln?« So wie normale
Leute.
Tolliver sah
mich an. Ich erwiderte seinen Blick. »Gute Frage«, sagte er. Ich musterte ihn
misstrauisch und beschloss, nicht darauf zu antworten. Sie hatte schließlich
nicht mich gefragt.
»Harper
hilft den Menschen«, sagte er. »Sie ist einzigartig.«
»Aber sie
lässt sich dafür bezahlen«, sagte Nell entrüstet.
»Klar«,
meinte Tolliver. »Warum auch nicht? Wenn du erst Therapeutin bist, lässt du
dich doch auch bezahlen.«
Mary Nell
sah großzügig darüber hinweg.
»Aber das
kann sie doch alleine. Braucht sie dabei wirklich Hilfe?«
Huhu, du da!
Jetzt hör mir mal gut zu! Ich spreizte die Hände und hatte die Handflächen nach
oben gekehrt. Nur Tolliver bemerkte die Geste.
»Es ist
nicht so, dass sie auf meine Hilfe angewiesen wäre. Ich möchte ihr einfach nur
gern helfen«, sagte Tolliver sanft. Ich
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