Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
und dementsprechend geborgen. »Vielleicht wollten Mariella und
ihr Freund ja zum Zirkus«, schlug ich vor. »Oder sie reisen einer Band
hinterher.«
»Meine Güte,
bis du altmodisch!«, sagte Tolliver. »Heutzutage wollen die Mädels alle
Modedesignerin oder Supermodel werden.«
»Nun, dazu
wird es Mariella nie bringen«, sagte ich. Als wir unsere Schwester das letzte
Mal gesehen hatten, war sie eher klein und mollig gewesen, und das sind Models
bekanntermaßen nicht. Und dafür, dass sie ins Kraut hätte schießen können, war
es noch ein wenig zu früh.
»Als
Nächstes werden sie Mark benachrichtigen«, sagte Tolliver. Sein älterer Bruder
lebte nicht allzu weit von Iona, Hank und den Mädchen entfernt.
»Der arme
Mark«, sagte ich. Er war bekannt für seine Hilfsbereitschaft, dabei brauchte er
dringend selbst etwas Erholung. Seine erste Ehe war ebenso rasant wie
dramatisch gescheitert, und seitdem hatte er eine katastrophale Freundin nach
der anderen gehabt. Mark war ein netter Kerl, der etwas Besseres verdient
hatte, aber er suchte sich immer etwas Schlechteres. »Wir sollten ihn heute
Abend anrufen.«
»Gute Idee.
So, da wären wir.«
Das kleine
Haus machte einen desolaten Eindruck. Jay Hopkins dürfte es nicht leichtfallen,
es zu verkaufen; allein der Garten war in einem guten Zustand.
Jay Hopkins
war genauso dünn, wie es seine Exfrau gewesen war. Ich sah kurz ihre
klappernden Skelette beim Sex vor mir, ein Bild, das ich schnell wieder
verdrängte. Er saß auf den Stufen vorm Haus, so dass ich ihn gründlich mustern konnte,
während wir durch den Garten gingen. Helens Ex hatte das ungesunde Gesicht
eines Gewohnheitstrinkers und hätte alles zwischen vierzig - was wahrscheinlich
seinem tatsächlichen Alter entsprach -und sechzig sein können. Er hatte
schütteres graublondes Haar und rauchte gierig.
»Danke, dass
Sie gekommen sind«, sagte er. »Sie müssen die Psycholady sein.«
»Ich bin
kein Psycho«, erklärte ich bestimmt schon zum tausendsten Mal. Ich wollte ihm
fast schon sagen, dass ich auch keine Lady sei, aber das würde er schon selbst
merken, und das Thema langweilte mich. »Ich spüre einfach nur Leichen auf.«
»Ich bin
Tolliver Lang, Harpers Bruder.« Tolliver streckte die Hand aus. »Herzliches
Beileid.« »Jetzt ist meine ganze Familie tot«, sagte Jay Hopkins sachlich.
»Beide Töchter und meine Frau. Einen schlimmeren Verlust kann man wohl kaum
erleiden.«
Ich suchte
krampfhaft nach einer tröstenden Bemerkung, aber mir fiel nichts ein.
Wahrscheinlich, weil man darauf einfach nichts Tröstliches sagen konnte.
»Setzen Sie
sich«, sagte Jay, als das Schweigen unerträglich wurde, und wies auf die Stufen
neben sich.
»Zuerst habe
ich noch eine Frage an Sie«, sagte ich abrupt. »Hat Ihre Frau Teenies Zimmer so
gelassen, wie es war?«
»Ja. Sie hat
stets damit gerechnet, dass sie irgendwann zurückkommt«, sagte er zögernd. »Bis
Sally Hollis geheiratet hat, teilten sich die beiden Mädchen ein Zimmer. Danach
hatte es Teenie ganz für sich allein. Warum fragen Sie?«
»Darf ich es
mir ansehen?«
»Sie haben
gesagt, Sie sind kein Psycho. Was wollen Sie dadurch herausfinden?« Jay Hopkins
war intelligenter, als ich es vermutet hätte. Vielleicht hatte er heute noch
nichts getrunken.
Ich zögerte.
»Ich möchte nachsehen, ob noch ein paar Haare von ihr in ihrer Bürste hängen«,
sagte ich schließlich.
»Und warum?«
Er zündete sich noch eine Zigarette an.
»Ich möchte
sie untersuchen lassen.«
»Warum?«
Jetzt hatte
er eine Frage zu viel gestellt.
»Ich denke,
Sie wissen warum«, sagte Tolliver völlig unerwartet. »Die Frage stellen Sie
sich doch bestimmt auch.«
Jay drückte
aggressiv die Zigarette aus. »Wovon reden Sie, Mister?«
»Wer ihr
Vater war.«
Jay
erstarrte, wahrscheinlich weil jemand die Frechheit besaß, das laut
auszusprechen. »Sie war meine Tochter!«, sagte er mit einer Stimme, die keinen
Widerspruch zuließ.
»Ja, bei
dem, worauf es ankommt, schon. Aber wir müssen wissen, wessen biologische
Tochter sie war«, sagte Tolliver.
»Warum? Ich
werde dieses Kind zu Grabe tragen. Das lasse ich mir nicht auch noch nehmen!«
So klang ein Mann, der viel verloren hatte, obwohl ich mir sicher war, dass er
auch einiges selbst weggeworfen hatte.
»Wenn ihr
eigentlicher Vater sie bis jetzt nicht für sich beansprucht hat, wird er das
jetzt auch nicht mehr tun«, redete ich ihm gut zu.
»Es spricht
einiges dafür, dass ich Teenies Vater bin. Ich will nicht,
Weitere Kostenlose Bücher