Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
Markham gefragt, ob ich kurz nach Hause
darf, um mich umzuziehen.«
»Mrs Markham
ist die Cheerleader-Sponsorin«, erklärte uns Sybil, als ob uns das irgendetwas
anginge. »Na, dann zieh dich rasch um, Schatz«, meinte sie zu Mary Neil. Sie
hätte genauso gut »husch, husch« sagen und in die Hände klatschen können. Nell
sauste mit geröteten Wangen davon. Nach fünf Minuten war sie wieder da. Sie
trug ein dunkelblaues, langärmeliges T-Shirt und einen khakifarbenen Rock. Ich
hätte wetten können, dass ihr vorheriges Outfit auf dem Fußboden ihres Zimmers
lag. »Bin schon wieder weg, Mom!«, rief sie und lief den Flur entlang Richtung
Küche. Die Küche besaß eine Verbindungstür zur Garage, und wir wussten ja
bereits, dass Nell ein eigenes Auto besaß. Es dauerte keine Minute, bis ich den
roten Honda über den Kiesweg sausen sah.
»Sie ist
unglaublich aktiv in der Schule«, sagte Sybil.
»In welche
Klasse geht sie?«, fragte ich höflich.
»Oh, sie bleibt
mir noch ein Jahr erhalten«, sagte Sybil. »Dann werde ich ganz allein in diesem
großen leeren Haus zurückbleiben.«
»Wer weiß,
vielleicht heiraten Sie ja wieder«, sagte ich so neutral wie möglich.
Sybil wirkte
überrascht, vielleicht, weil ich ihr einen Vorschlag machte, der mich nun
wirklich nichts anging. »Möglich wäre es«, sagte sie steif. »Darüber habe ich
mir noch keine Gedanken gemacht.«
Ich glaubte
ihr kein Wort. Und so wie das Hausmädchen dreinschaute, das gerade die
schmutzigen Teller abräumte, glaubte es Sybil auch nicht. Wir hatten Eistee zum
Salat getrunken und Huhn mit Reis gegessen, aber ich hatte mir nur einmal
nachschenken lassen. Ich wollte mir noch Neils Zimmer ansehen, konnte aber
schlecht sagen, ich müsse schon wieder auf die Toilette. Damit würde ich mich
verdächtig machen. Ich hatte auch keine Möglichkeit, Tolliver loszuschicken,
außerdem war er ohnehin nicht gut darin, sich unauffällig irgendwohin zu
schleichen.
Das
Esszimmer dominierte ein Gemälde, das Sybils verstorbenen Mann zeigte. Ich saß
genau gegenüber und hatte eine Dreiviertelstunde lang Gelegenheit, seine
Gesichtszüge zu bewundern und nach Gemeinsamkeiten mit Dell und Mary Nell zu
suchen, deren Porträts zu beiden Seiten des großen Gemäldes hingen.
»Ihr Mann?«,
fragte ich höflich und deutete auf das Bild. Ich nahm an, dass es bloß nach
einem Foto gemalt worden war, aber es war trotzdem interessant. Die Augen
wirkten sehr lebendig, und die Spannung in der sitzenden Figur gab einem das
Gefühl, Teague könne jeden Moment aufspringen.
Sie drehte
den Kopf, um sich das Bild anzusehen. Ganz so, als hätte sie vergessen, dass es
überhaupt dort hing. »Er war ein guter Mann«, sagte sie leise. »Er liebte seine
Kinder. Er bekam eine Lungenentzündung, die resistent gegen Antibiotika war,
und musste nach Little Rock ins Krankenhaus. Er hatte Herzprobleme, aber die
Ärzte meinten, wir brauchten uns deswegen keine Sorgen zu machen. Sie wollten
sich darum kümmern, sobald er die Lungenentzündung überwunden hätte. Aber als
er sich gerade noch davon erholte, saß er eines Nachmittags mit den gesammelten
medizinischen Unterlagen vom letzten Jahr im Arbeitszimmer. Er war unzufrieden
mit unserer Krankenversicherung, wahrscheinlich, weil er fand, sie hätte einen
größeren Teil unserer Arztrechnungen übernehmen müssen. An den genauen Grund
erinnere ich mich nicht mehr. Aber in diesem Jahr waren doch ziemlich viele
Arztrechnungen zusammengekommen. Mary Nell hatte eine Mandeloperation, und Dell
war in einen Autounfall verwickelt. Der Fahrer hatte ein gebrochenes Bein und
Dell eine Kopfwunde, die genäht werden musste. Eine blutige Angelegenheit, aber
zum Glück nicht so schlimm. Ich selbst hatte hohe Cholesterinwerte. Deshalb saß
Dick vor diesen Papierbergen, die er durchsehen wollte, und etwas später an
diesem Nachmittag ist er einfach ... gestorben. Als ich in sein Zimmer kam, um
ihn zum Abendessen zu rufen, lag er mit dem Kopf auf dem Schreibtisch.«
»Das tut mir
leid«, sagte ich. Sybil hatte schon einiges durchmachen müssen in ihrem Leben,
das musste ich ihr lassen, wie kalt und abgebrüht ich sie ansonsten auch fand.
»Eines würde
mich noch interessieren, Sybil«, sagte mein Bruder, so als sei es völlig
normal, in diesem Moment das Thema zu wechseln. Sybil blinzelte und
konzentrierte sich wieder auf Tolliver. »Warum haben Sie Harper eigentlich
nicht schon viel früher um Hilfe gebeten?«
»Wie bitte?«
Sybils attraktives Gesicht war
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