Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
hat?«
»Nein«,
sagte er sofort. »Wohin fahren wir eigentlich?«
»Zum Haus
von Helen Hopkins. Jay Hopkins möchte sich mit uns treffen.«
»Warum?«
»Ich habe
keine Ahnung.«
»Meiner
Meinung nach wollten die beiden einfach nicht miteinander reden, obwohl die
eine einen toten Sohn zu beklagen hatte und die andere eine vermisste Tochter.
Hinzu kommt, dass sich die beiden Kinder geliebt haben. Dass Teenie schwanger
war, muss wie eine eiskalte Dusche auf sie gewirkt haben.«
»Ja. Aber
anscheinend hatte sie ihrer Mutter nichts davon erzählt. Und Dell hat Sybil
auch nichts gesagt, so viel steht fest. Aber seiner kleinen Schwester hat er
sich anvertraut. Findest du das nicht komisch?«, fragte ich Tolliver.
»Nein. Ich
würde mich immer zuerst dir anvertrauen, bevor ich es meinem Dad oder meiner
Mutter erzähle.«
Mir wurde
ganz warm ums Herz. »Aber das gilt für unsere Familie. Die beiden sind ganz
normal aufgewachsen.«
»Normal?
Helen war Alkoholikerin und ließ sich scheiden, weil ihr Mann trank und sie
schlug. Sybil Teague ist eine der kältesten Frauen, die ich je kennengelernt
habe. Es sollte mich wundern, wenn sie den armen Kerl nicht ausschließlich
wegen seines Geldes geheiratet hat ... Wenn sie überhaupt jemanden liebt, dann
a) Dell, ihren Sohn, b) sich selbst, und dann vielleicht noch c) Mary Nell.«
»Okay, du
hast recht.« Manchmal erstaunt mich Tolliver, wie zum Beispiel in diesem
Moment.
Wir fuhren
durch Sarne und ließen die wenigen Sehenswürdigkeiten auf uns wirken. Nach
diesem Wochenende war die Stadt schon eifrig dabei, die Schotten für den Winter
dicht zu machen. Die bunten Fähnchen wurden von den Laternen entfernt. Keiner
trug mehr eines dieser Kostüme. In Tante Hatties Eisdiele hing
ein Schild im Fenster: »Im Winter geschlossen«. Die Pferde und Kutschen waren
vom Rathausplatz verschwunden.
Während wir
uns das zweite Mal zu dem kleinen Haus in der Freedom Street aufmachten,
klingelte das Handy. Weil Tolliver am Steuer saß, ging ich dran.
»Hallo«,
sagte ich, und eine leise Stimme fragte: »Harper?«
»Ja?«
»Ich bin's,
Iona. Tollivers Tante.«
»Iona«,
flüsterte ich Tolliver zu und presste dann wieder das Ohr ans Handy. »Ja, was
ist?«
»Deine
Schwester ist abgehauen.«
»Welche?«
»Mariella.«
Mariella war
gerade mal elf. Tolliver und ich hatten ihr eine Karte und etwas Geld zum
Geburtstag geschickt. Natürlich hatte sie sich nicht dafür bedankt, und als wir
-beziehungsweise ich - am bewussten Tag anriefen, hatte Iona nur gesagt,
Mariella sei nicht da. Dabei war ich mir ziemlich sicher gewesen, ihre Stimme
im Hintergrund zu hören.
Ich musste
sofort wieder an Cameron denken und zwang mich zu fragen: »Ist sie mit jemand
anders abgehauen oder bloß verschwunden?«
»Sie ist
zusammen mit einem dreizehnjährigen Jungen abgehauen, einem Tunichtgut namens
Craig.«
»Und?«
»Wir wollen,
dass du kommst und nach ihr suchst.«
Ich hielt
das Handy weit von meinem Ohr weg und starrte es ungläubig an.
»Seit Jahren
erzählst du ihr, wie furchtbar Tolliver und ich sind«, sagte ich zu Tante Iona.
»Selbst, wenn ich sie finden würde, sie würde sowieso nicht mit mir kommen. Sie
würde sofort Reißaus nehmen. Außerdem finde ich nur Tote. Such du doch nach
ihr. Und verständige die Polizei. Ich wette, du hast noch nicht mal die Polizei
angerufen.« Damit beendete ich das Gespräch.
»Was ist?«,
fragte Tolliver. Ich erzählte ihm, was Iona gesagt hatte.
»Meinst du
nicht, dass du etwas überstürzt reagiert hast?« Er klang sanft, trotzdem
verletzten mich seine Worte.
»Wir müssen
nach Memphis und dann nach Millington und werden hier ohnehin schon seit ein
paar Tagen aufgehalten. Wir haben keine Ahnung, wo Mariella und dieser Craig
sein könnten. Wie weit werden sie schon gekommen sein? Sie können nicht Auto
fahren. Wetten, sie sind einfach nur die Hauptstraße runtergelaufen? Sie ist
nicht zur Polizei, weil sie nicht zugeben will, das Mariella weggelaufen ist.«
»Weißt du
noch, wie Cameron als Kind war?«, fragte Tolliver. »Ich habe sie damals zwar
noch nicht gekannt, aber ich wette, sie ist auch ab und zu mal weggelaufen,
oder nicht?«
»Nein«,
sagte ich. »Als Cameron klein war, lebten wir noch in einigermaßen geordneten
Verhältnissen.« Obwohl es bereits Anzeichen für den Abstieg unserer Eltern
gegeben hatte, waren wir noch viel zu jung gewesen, um sie richtig zu
interpretieren. Wir fühlten uns immer noch wie Angehörige der oberen
Mittelschicht
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