Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
sie
meinte, dass es drei Tage dauert, bis wir ein vorläufiges Ergebnis bekommen?«,
fragte ich.
»Ja. Das
endgültige Ergebnis dauert noch etwas länger, aber in drei Tagen bekommen wir
ein kurzes Ja oder Nein. Weil wir Haarfollikel und nicht Blut untersuchen
lassen.«
Wir
verließen gerade den Laden, als ein Polizeiauto neben unserem Wagen hielt. Ein
mir bislang unbekannter Hilfssheriff stieg aus. Er war groß, dünn, mittleren
Alters, und sein farbloses Haar war kurz geschoren. Er trug eine hässliche
Brille und wirkte äußerst angespannt. Er stolzierte zu unserem Kofferraum
hinüber und musterte unser Nummernschild aus Texas, als sei es auf Chinesisch
geschrieben.
»Ich muss
Ihr Nummernschild überprüfen«, sagte er. »Gegen Sie ist Haftbefehl erlassen
worden, in Montana.«
»Das kann
nicht sein«, sagte ich, aber Tolliver packte mich mahnend am Arm.
»Außerdem
haben Sie da ein kaputtes Rücklicht.« Er zeigte darauf, aber ich tat ihm nicht
den Gefallen, hinzuschauen. Er wartete auf irgendeine Reaktion und wirkte
enttäuscht, als keine kam. »Sind Sie der Fahrzeughalter, Sir?«
»Ja«, sagte
Tolliver vorsichtig.
»Bitte
drehen Sie sich zum Auto und stützen Sie beide Hände auf das Dach. Ich muss Sie
festnehmen.«
Ich spürte
ein Dröhnen in meinem Kopf, ein leises Dröhnen. Während mein Bruder der
Aufforderung schweigend, ja fast schon gelassen Folge leistete, stand ich da
wie erstarrt. Tolliver hatte die Anspannung des Hilfssheriffs ebenfalls
bemerkt.
»Was...« Ich
musste mich räuspern. »Was soll das?«
»Es liegt
ein Haftbefehl gegen ihn vor. Er muss ins Gefängnis, bis ich die Sache geklärt
habe.«
»Wie bitte?«
Ich verstand ihn nicht, weil das Dröhnen in meinem Kopf immer lauter wurde.
»Der Richter
wird bald eintreffen. Falls es sich um ein Missverständnis handelt, ist er im
Nu wieder draußen.«
»Wie bitte?«
»Sind Sie
schwerhörig?«, fragte der große Mann. »Oder können Sie kein Englisch, gute
Frau?«
»Sie
verhaften meinen Bruder«, sagte ich.
»Genau.«
»Weil Sie
behaupten, in Montana liege ein Haftbefehl gegen ihn vor.«
»Ja, Madam.«
»Aber das
stimmt doch gar nicht! Die Anzeige wurde fallen gelassen.«
»In unserem
Computer steht aber etwas ganz anderes. Und dann wäre da immer noch die Sache
mit dem Rücklicht, Madam.« Er zeigte wieder darauf. Während Tolliver blieb, wo
er war, ging ich vorsichtig um das Auto herum, wobei ich stets einen gewissen
Sicherheitsabstand zum Hilfssheriff einhielt. Das Rücklicht war eingeschlagen.
»Es war in
Ordnung, als wir den Laden betreten haben«, sagte ich.
»Sie müssen
schon entschuldigen, dass ich Ihnen nicht glaube«, sagte der Hilfssheriff
grinsend. Er ging um das Heck des Wagens herum, wobei er ebenfalls darauf
achtete, mir nicht zu nahe zu kommen, und tastete Tolliver ab. Ich sah die
glitzernden Scherben des Rücklichts auf der Straße liegen.
»Wann kann
ich ihn abholen?«, fragte ich. Das Ganze war reine Schikane, aber ich konnte
nichts dagegen tun.
»Sobald der
Richter eine Strafe für das kaputte Rücklicht festgesetzt hat und wir das mit
dem Haftbefehl geklärt haben«, sagte der Hilfssheriff. »Und da es hier keinen
amtierenden Richter gibt, müssen wir warten, bis einer kommt.«
Ich atmete
laut hörbar ein. Ich konnte einfach nicht anders. Je mehr ich mir meine Angst
anmerken ließ, desto mehr Macht und Schadenfreude gestand ich dem Hilfssheriff
zu. Doch wie gesagt, ich konnte nicht anders. Ich stand kurz davor, eine
Panikattacke zu bekommen, und suchte verzweifelt nach einem Ausweg.
»Wie heißen
Sie?«, fragte ich.
»Bledsoe«,
antwortete er wenig glücklich.
»Harper«,
sagte mein Bruder und sah mir fest in die Augen. Er hatte inzwischen
Handschellen um, und als ich das Metall um seine Handgelenke sah, wurde das
Dröhnen in meinem Kopf noch lauter. Der Hilfssheriff sah mich an und schien
sich mit einem Mal sehr unbehaglich zu fühlen. Das Grinsen war ihm vergangen.
»Ruf Art an. Er wird uns jemanden empfehlen«, sagte Tolliver. Art Barfield war
unser Anwalt. Seine Kanzlei lag in Atlanta, wo wir das erste Mal einen Anwalt
benötigt hatten.
Als der
Hilfssheriff begriff, dass wir über einen hochkarätigen Anwalt verfügten (was
nicht unbedingt stimmte), wurde ihm noch unbehaglicher zumute. Er schlug einen
etwas freundlicheren Ton an. »Jetzt regen Sie sich bitte nicht so auf, junge
Frau. Ihrem Bruder wird im Gefängnis kein Haar gekrümmt.«
Daran hatte
ich noch gar nicht gedacht. Bislang hatte ich
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