Harper Connelly 04 - Grabeshauch
Weihnachtsbaum, als Mariella sagte: »Oh, ich habe die anderen beiden Bücher gelesen,
die die Frau geschrieben hat! Danke!« Ich verschluckte mein »Gern geschehen« und lächelte stattdessen zufrieden.
Gracie sagte nichts, sondern strahlte uns an. Das sprach Bände, denn sie lächelt nicht oft. Sie sieht Mariella kein bisschen
ähnlich, andererseits hatten meine Schwester und ich uns auch nicht ähnlich gesehen. Gracie sieht aus wie eine kleine Elfe:
Sie hat eher grüne Augen, langes, dünnes helles Haar, ein kleines Stupsnäschen und herzförmige Lippen.
Vielleicht kann ich einfach nicht sehr gut mit Kindern umgehen. Ich finde Gracie interessanter als Mariella, auch wenn das
herzlos klingt. Soweit ich weiß, haben auch echte Mütter heimliche Vorlieben. Ich bin mir sicher, dass ich mir meine nicht
anmerken lasse. Ich warte immer darauf, dass Mariella etwas tut, was ich interessant finde, und war entzückt, dass sie sich
über das Buch freute. Wenn sich Mariella als Leseratte entpuppte, würde ich einen Weg finden, ihr näherzukommen. Gracie war
sehr krank gewesen, zu einem Zeitpunkt, an dem ich ebenfalls krank war. Das lag an der unzureichenden Pflege. Mich hatte der
Blitz niedergestreckt, während Gracie an chronischen Brust- und Atemproblemen litt.
»Bist du eine böse Frau, Tante Harper?«, fragte Gracie. Die Frage kam aus heiterem Himmel.
Diese »Tante«-Anrede stammte von Iona. Sie fand, dass wir so viel älter waren als unsere Schwestern, dass sie uns respektvoll
anreden sollten. Aber das war nicht der Grund, warum ich so entgeistert war. »Ich bemühe mich, nicht bösezu sein«, sagte ich, um etwas Zeit zu schinden, bis ich den Grund ihrer Frage kannte.
Iona beschäftigte sich mit ihrem Kaffee und hörte nicht auf, mit einem Löffel darin zu rühren. Ich spürte, wie sich meine
Mundwinkel senkten, und ich strengte mich an, kein böses Wort zu verlieren. Als klar wurde, dass Iona so tat, als ginge sie
das Ganze nichts an, fuhr ich fort: »Ich versuche aufrichtig zu den Menschen zu sein, für die ich arbeite«, sagte ich. »Ich
glaube an Gott.« (Aber mit Sicherheit nicht an denselben Gott wie Iona.) »Ich arbeite hart, und ich zahle meine Steuern. Ich
bin so gut, wie ich kann.« Und das war die Wahrheit.
»Aber wenn du Geld von Leuten nimmst, ohne dein Versprechen einzulösen, ist das doch böse, oder?«, sagte Gracie.
»Natürlich ist das böse«, schaltete sich Tolliver ein. »So etwas nennt man Betrug, und das würden Harper und ich niemals tun.«
Seine dunklen Augen bohrten sich in Iona. Auch Gracie schaute ihre Adoptivmutter an. Bestimmt sahen sie zwei ganz verschiedene
Menschen.
Iona wich unseren Blicken nach wie vor aus und rührte immer noch in ihrem verdammten Kaffee.
In diesem Moment kam Hank herein, genau zum richtigen Zeitpunkt. Hank war ein hochgewachsener Mann mit einem breiten Gesicht,
dunklem Teint und sich lichtendem blondem Haar. Er hatte einmal sehr gut ausgesehen und war mit vierzig immer noch attraktiv.
Seine Taille war seit seiner Hochzeit mit Iona kaum dicker geworden.
»Harper! Tolliver! Wie schön, dass ihr da seid! Wir sehen uns viel zu selten.«
Lügner.
Er küsste Gracie auf den Scheitel und kniff Mariella in die Wange. »Na, ihr beiden?«, sagte er zu den Mädchen. »Wie lief das
Diktat heute, Mariella?«
Mariella sagte: »Hallo, Daddy! Ich habe acht von zehn Sätzen richtig geschrieben.«
»Das höre ich gern«, sagte Hank. Er schenkte sich Cola aus einer Zweiliterflasche ein, warf ein paar Eiswürfel ins Glas und
holte einen Klappstuhl, der neben dem Kühlschrank stand. »Und, war’s schön im Chor, Gracie?«
»Wir haben gut gesungen«, sagte sie. Sie schien erleichtert zu sein, wieder ein vertrautes Gesprächsthema zu haben.
Falls Hank die angespannte Atmosphäre in der Küche bemerkt hatte, kommentierte er sie nicht.
»Wie geht es euch beiden?«, fragte er mich. »Ein paar interessante Leichen gefunden in letzter Zeit?« Hank pflegte über unsere
Arbeit zu sprechen, als wäre sie ein einziger Witz.
Ich lächelte schwach. »Ein paar«, sagte ich. Offensichtlich las Hank keine Zeitung und sah auch keine Nachrichten. Im letzten
Monat hatte ich dort öfter Erwähnung gefunden, als mir lieb war.
»Wo wart ihr?« Hank schien es auch amüsant zu finden, dass Tolliver und ich wegen unseres merkwürdigen Berufs ständig unterwegs
waren. Hank hatte Texas während seiner Armeezeit verlassen, aber das war auch seine einzige
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