Harrison, Kim - Hollows 7 - Blutkind
sich in Pfützen auf den Stufen. Sie watete hindurch wie durch eine sanfte Brandung. Sie konnte die Energie sehen, welche die Leute hinter den Türen abgaben, Ärger hier, Frustration dort.
Sie wurde langsamer, als sie die sanftere, schwerer auszuma-chende Emotion der Liebe spürte, nur ein Hauch, der vor der Tür schwebte wie ein feines Parfüm.
Sie blieb stehen und verweilte unter dem Vorwand, erschöpft zu sein, vor einer Tür, hinter der leise Musik und Ge-lächter erklangen. Liebe und Verlangen trugen die meiste Energie, aber sie waren schwer zu finden. Nicht, weil sie selten waren, sondern weil Leute diese Gefühle auf eine bestimmte Person richteten und das Gefühl ansonsten dicht bei sich be-hielten, als wüssten sie, wie mächtig es war. Liebe drang selten über die Aura einer Person hinaus, außer sie floss direkt in eine 678
andere Person. Nicht wie die wilde Bitterkeit von Wut, die Leute von sich schleuderten wie den Dreck, der sie war.
Mia schloss die Augen und saugte die zarte Liebe in sich auf, die das Paar im Flur hinterlassen hatte, als sie nach dem Schlüssel suchten. Es war erst vor ein paar Stunden gewesen, und obwohl es sie stärkte, bereitete es ihr doch auch Schmerzen. Es war zu lange her, dass sie die volle, ungeschützte Wärme einer anderen Aura gespürt hatte. Sie war es leid, sich von Müll oder gestohlenen Resten von Liebe zu ernähren.
Ein plötzlicher Entschluss ließ sie ihren Ring abnehmen. Sie steckte ihn in die Tasche und befühlte schuldbewusst den Stoff, um zu sehen, ob es einen verräterischen Abdruck gab. Dann ging sie mit hoch erhobenem Kopf weiter ins oberste Stockwerk.
Toms Tür war nicht verziert. Sie klopfte leise, und ihr Puls raste, während sie hoffte, gehört zu werden. Sie wollte nicht, dass ein Nachbar sich an das Klopfen erinnerte. Tom hatte ihr versprochen, dass er niemandem erzählen würde, dass sie eine Banshee war. Er hatte Angst, dass sie ihn dahinsiechen sahen und ihn davon überzeugten, sie niemals wieder zu sehen. Sie sollte so schnell nicht wieder herkommen, aber die Erinnerung an seine Liebe war wie der Geruch von Blüten; er verlangte danach, in sich aufgesogen zu werden, und war unwidersteh-lich.
Die Tür öffnete sich so schnell, dass sie einen Schritt zu-rücktrat, dann starrte sie Tom an, die Augen weit aufgerissen und mit angehaltenem Atem. Er sah gut aus. Besser als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Die Falten in seinem Gesicht waren weniger tief, entsprachen jetzt eher seinem wahren Alter, Mitte dreißig. Er war groß und früher einmal herrlich kraftvoll gewesen, wenn auch eher schmal. Aber seitdem er sie vor einem Jahr beim Einkaufen getroffen hatte, hatte er einen Großteil seiner Körpermasse verloren und sah aus, als würde er sich von einer langen Krankheit erholen. Sein kurzes braunes 679
Haar war sauber, aber noch zerstrubbelt vom Duschen, und er trug Jeans und ein bequemes Flanellhemd gegen die Kälte.
Als er sie sah, lächelte er, und Freude ließ sein langes, etwas fahles Gesicht strahlen. Seine Haut war bleich vom Mangel an Sonnenlicht und seine Muskeln hatten ihre Stärke schon vor Monaten verloren. Seine Finger, lang genug, um sein Instrument mit großer Kunstfertigkeit zu spielen, wirkten dünn, als er sie in eine Umarmung zog.
Mia fühlte seine Arme um sich und wäre fast sofort wieder gegangen. Sie atmete seine erste Freude ein und erkannte, dass es zu früh war. Sie sollte nicht hier sein, selbst wenn sie sich nach ihm sehnte. Vielleicht hatte sie jemand gesehen, und er hatte sich auch noch nicht wieder vollständig von ihrem letzten Besuch erholt. Aber sie war so müde, und selbst ein Hauch seiner Liebe würde sie erfrischen.
»Ich habe dich auf dem Gehweg gesehen«, sagte Tom, als er fühlte, wie sich ihre Schultern versteiften. Seine Hände glitten von ihr ab. »Ich bin froh, dass du hochgekommen bist. Es ist so einsam hier, ganz allein. Komm rein. Nur für einen Moment.«
Ihr Puls raste, und mit schuldbewusster Hast trat sie in sein Apartment. »Ich kann nicht bleiben«, sagte sie mit hoher Stimme. »Tom, ich habe mir geschworen, dass ich nur kurz vorbeischaue, um Hallo zu sagen, dann muss ich wieder weg.«
Sie hörte selbst, wie panisch sie klang, und biss sich auf die Unterlippe, während sie sich von Herzen wünschte, die Dinge wären anders. Das Klicken der sich schließenden Tür vermischte sich mit dem sanften Hintergrundgeräusch des Radios.
Die Wärme seiner Wohnung hüllte sie ein, und sie
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