Harry Bosch 02 - Schwarzes Eis
bewu ß t, da ß er den Namen kannte. Mickey Haller war einer der bekanntesten Strafverteidiger in L. A. gewesen. Er hatte eines der Manson-M ä dchen verteidigt. Ende der f ü nfziger Jahre hatte er einen Freispruch herausgeschlagen f ü r den Highway-Mann, einen Polizisten, der angeklagt war, sieben Frauen vergewaltigt zu haben, nachdem er sie wegen zu schnellen Fahrens auf abgelegenen Abschnitten der Golden State Highway gestoppt hatte. Was machte J. Michael Haller in einem Sorgerechtsfall?
Wegen nichts mehr als einer vagen Ahnung begab sich Bosch ins Geb ä ude des Strafgerichts und lie ß sich alle Proze ß akten seiner Mutter aus dem Archiv holen. Bei der Durchsicht stellte er fest, da ß Haller seine Mutter au ß er vor dem Vormundschaftsgericht zwischen 1948 und 1961 sechsmal nach Festnahmen wegen Herumlungerns – ein Gummiparagraph, der meistens gegen Prostituierte angewandt wurde – vertreten hatte. Also bis in eine Zeit, wo er auf dem H ö hepunkt seiner Karriere stand.
Intuitiv begriff Harry.
Die Empfangsdame in der Anwaltskanzlei auf der obersten Etage eines Hochhauses am Pershing Square teilte ihm mit, da ß Haller vor kurzem aus Gesundheitsgr ü nden in den Ruhestand getreten sei. Hallers Adresse stand nicht im Telefonbuch, aber auf der W ä hlerliste. Er war als Demokrat eingetragen und wohnte am Canon Drive in Beverly Hills. Die Rosenb ü sche, die den Gehweg zur Villa seines Vaters s ä umten, w ü rde Harry nie vergessen. Sie waren perfekt.
Das Dienstm ä dchen, das die T ü r ö ffnete, erkl ä rte ihm, da ß Mr. Haller keine Besucher empfange. Bosch bat sie, ihm auszurichten, da ß Margerie Lowes Sohn sich gerne vorstellen w ü rde. Zehn Minuten sp ä ter wurde er an Familienmitgliedern vorbeigef ü hrt, die im Hausflur herumstanden und eigenartige Gesichter zogen. Der alte Mann hatte sie aus seinem Zimmer geschickt und angewiesen, da ß man ihn alleine hereinschicken solle. Als Harry vor dem Bett stand, sah er, da ß der Rechtsanwalt kaum noch achtzig Pfund wog. Es war nicht n ö tig zu fragen, was ihm fehle. Der Krebs hatte ihn fast v ö llig ausgezehrt.
» Ich denke, ich wei ß , warum du gekommen bist «, kr ä chzte er.
» Ich wollte nur … Ich wei ß nicht.« F ü r eine Weile stand er da und schwieg. Er sah, welche Anstrengung es dem Mann allein kostete, die Augen aufzuhalten. Ein Schlauch ging von einem Kasten neben dem Bett unter die Decke. Ab und zu piepte er, wenn schmerzstillendes Morphium in die Blutbahn des sterbenden Mannes gepumpt wurde. Der alte Mann betrachtete ihn schweigend.
» Ich will nichts von dir «, sagte Bosch endlich. »Ich wei ß nicht … Ich glaube, ich wollte dir zeigen, da ß ich mich durchgeboxt hatte. Mir geht es okay. Falls du dir dar ü ber mal Sorgen gemacht hast.«
» Warst du im Krieg? «
» Ja, das habe ich hinter mir.«
» Mein Sohn, mein anderer Sohn, er … Ich habe ihn davor bewahrt. Was wirst du jetzt tun? «
» Ich wei ß nicht.«
Nach einer Pause schien der alte Mann zu nicken. Er sagte: » Du hei ß t Harry. Deine Mutter hat es mir erz ä hlt. Sie hat viel von dir geredet … Aber ich konnte nie … Verstehst du? Es war eine andere Zeit. Und nachdem es so lange so gegangen war, konnte ich nicht … Ich konnte es nicht mehr in Ordnung bringen.«
Bosch nickte. Er war nicht gekommen, um dem Mann noch mehr Schmerzen zu bereiten. Sie schwiegen wieder, und er h ö rte das angestrengte Atmen.
» Harry Haller «, fl ü sterte der alte Mann, ein trauriges L ä cheln auf den d ü nnen Lippen, die sich von der Chemotherapie h ä uteten. » Das h ä ttest du sein k ö nnen. Hast du mal Hesse gelesen? «
Bosch verstand nicht, nickte aber. Es piepte wieder. Er wartete eine Minute, bis die Dosis zu wirken schien. Der alte Mann schlo ß die Augen und seufzte.
» Ich geh’ jetzt besser «, sagte Harry. » Alles Gute.«
Er ber ü hrte die zerbrechliche, bl ä uliche Hand des Mannes. Sie dr ü ckte seine Finger, fast verzweifelt, und lie ß dann los. Als er zur T ü r ging, h ö rte er den alten Mann kr ä chzen.
» Entschuldigung, was hast du gesagt? «
» Ich habe gesagt, ich habe … ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
Eine Tr ä ne lief dem alten Mann an der Seite in sein wei ß es Haar. Bosch nickte noch einmal. Zwei Wochen sp ä ter stand er auf einem kleinen H ü gel auf dem Forest Lawn Friedhof und schaute zu, wie sie seinen Vater beerdigten. Am Grab stand eine Gruppe von Leuten, von denen er annahm, da ß es sein Halbbruder und
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