Harry Bosch 02 - Schwarzes Eis
gesagt, da ß er ihn nicht gekannt hatte, aber das war nur teilweise wahr. Er wuchs auf, ohne ihn zu kennen und ohne sich, zumindest ä u ß erlich, f ü r ihn zu interessieren. Aber als er vom Krieg zur ü ckkam, hatte er ein dringendes Bed ü rfnis, etwas ü ber seine Herkunft zu erfahren, und er begann nach seinem Vater zu suchen, von dem er zwanzig Jahre lang nicht einmal den Namen gekannt hatte.
Harry war in einer Reihe von Heimen und bei Pflegefamilien aufgewachsen, nachdem die Beh ö rden seiner Mutter die Erziehungsberechtigung entzogen hatten. Im McClaren, im San Fernando oder in den anderen Heimen tr ö steten ihn die Besuche seiner Mutter, die nur ausfielen, wenn sie im Gef ä ngnis war. Sie versicherte ihm, da ß er nicht ohne ihre Zustimmung zu einer Pflegefamilie kommen konnte. Sie habe einen guten Anwalt, hatte sie gesagt, und werde versuchen, ihn zur ü ckzubekommen.
An dem Tag, als ihm die Hausmutter im McClaren mitteilte, da ß es keine Besuche mehr gebe, weil seine Mutter tot sei, nahm er die Nachricht anders als die meisten Zw ö lfj ä hrigen auf. Nach au ß en lie ß er sich nichts anmerken. Er nickte, da ß er verstanden habe, und ging. Aber w ä hrend der Schwimmstunde an diesem Tag tauchte er am tiefen Ende auf den Boden und schrie so laut und lange, da ß er glaubte, der L ä rm w ü rde zur Oberfl ä che dringen und vom Bademeister geh ö rt werden. Er tauchte so lange auf, um Luft zu holen, und wieder unter, um zu schreien, bis er sich total ersch ö pft an der Leiter am Beckenrand festhalten mu ß te. Die kalten Stahlrohre hielten ihn wie liebende Arme. Irgendwie w ü nschte er sich, er h ä tte bei ihr sein k ö nnen. Das war alles. Er wollte nur, da ß er sie h ä tte besch ü tzen k ö nnen.
Danach wurde er als FzA eingestuft. Freigegeben zur Adoption. Er durchlief eine Reihe von Pflegefamilien, bei denen er sich vorkam, als h ä tte man ihn f ü r eine Probefahrt ausgeliehen. Wenn sich die Erwartungen nicht erf ü llten, wurde er zur n ä chsten Familie und zur n ä chsten Jury weitergereicht. Einmal wurde er ins McClaren zur ü ckgeschickt, weil er die Angewohnheit hatte, mit offenem Mund zu essen. Ein anderes Mal wurde er mit einer Gruppe von Dreizehnj ä hrigen zu einer Familie ins San Fernando Valley geschickt. Harry und die anderen mu ß ten auf den Sportplatz und einen Baseball hin und her werfen. Die Ausw ä hler, so nannten die FzAs potentielle Pflegeeltern, entschieden sich f ü r Harry. Bald stellte er fest, da ß sie ihn nicht etwa genommen hatten, weil er dem Klischeebild eines richtigen Jungen entsprach, sondern weil sein Pflegevater einen Linksh ä nder wollte. Er hatte den Plan, einen Profi-Baseballspieler aus ihm zu machen, und Linksh ä nder waren gesucht und teuer. Nach zwei Monaten t ä glichen Trainings, Wurflektionen und theoretischen Unterrichts lief Harry weg. Es dauerte sechs Wochen, bis er von der Polizei auf dem Hollywood Boulevard aufgegriffen und zur ü ck ins McClaren geschickt wurde, wo er auf die n ä chsten Ausw ä hler wartete. Man mu ß te immer gerade stehen und l ä cheln, wenn sie durchs Heim gingen.
Die Suche nach seinem Vater begann er auf dem County-Standesamt. Auf der Geburtsurkunde von Hieronymus Bosch, geboren 1950 im Queen of Angels Hospital, stand unter dem Namen der Mutter Margerie Philips Lowe und unter dem des Vaters sein eigener: Hieronymus Bosch. Harry wu ß te nat ü rlich, da ß das nicht stimmte. Seine Mutter hatte ihm einmal erz ä hlt, da ß sie ihn nach einem K ü nstler benannt habe, dessen Werk sie bewundere. Die f ü nfhundert Jahre alten Gem ä lde des Malers seien mit ihren Alptraumlandschaften, den B ö sewichtern und Opfern ein genaues Abbild des gegenw ä rtigen Los Angeles. Den wahren Namen seines Vaters w ü rde sie ihm zur geeigneten Zeit sagen. Bevor die Zeit daf ü r kam, wurde sie in einer Gasse hinter dem Hollywood Boulevard tot aufgefunden.
Harry nahm sich einen Anwalt und bat beim Vorsitzenden Richter des Vormundschaftsgerichts um Einsicht in seine Akten. Seinem Antrag wurde stattgegeben, und Bosch verbrachte mehrere Tage im Archiv des Standesamts. Die umfangreiche Akte dokumentierte den vergeblichen Kampf seiner Mutter, das Sorgerecht zu behalten. Es war ein tr ö stender Beweis ihrer Liebe, aber den Namen seines Vaters fand er nirgends. Bosch war in eine Sackgasse geraten, notierte sich jedoch den Namen des Anwalts, der f ü r seine Mutter gearbeitet hatte: J. Michael Haller. Beim Aufschreiben wurde ihm
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