Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
zurück und begann mit dem Haken am zweiten Schloß zu arbeiten, als er merkte, daß sich der Türknopf bewegen ließ. Er drehte ihn und die Tür öffnete sich. Der Türknopf war nicht abgeschlossen worden. Es ergab Sinn. Der Türriegel diente als Abschreckung. Falls ein Einbrecher ihn öffnen konnte, war das Knopfschloß nur noch ein Kinderspiel. Warum sollte man es also abschließen?
Er stand in der Dunkelheit des Eingangs, ohne sich zu rühren, und wartete, daß sich seine Augen darauf einstellten. Als er in Vietnam war und sich in einen der Tunnel des Vietcong fallen ließ, bekam er innerhalb von fünfzehn Sekunden Nachtaugen. Jetzt dauerte es länger. Außer Übung. Oder es war das Alter, dachte er. Fast eine Minute stand er in der Tür. Als die Schatten und Formen Gestalt annahmen, rief er: »He, Ray? Bist du da? Du hast die Türe nicht abgeschlossen. Hallo?«
Keine Antwort. Mora würde keinen Hund haben. Er lebte allein und hatte als Polizist unregelmäßige Arbeitszeiten.
Bosch machte ein paar Schritte ins Haus und musterte die dunklen Formen der Wohnzimmermöbel. Er war schon vorher unbefugt in Wohnungen eingedrungen, auch in das Haus eines Cops, aber das Gefühl schien immer wieder neu zu sein – ein berauschendes Gefühl, begleitet von eiskalter Furcht und panischer Angst. Als ob sein Körperschwerpunkt ihm zwischen die Beine gerutscht wäre. Er fühlte eine Macht in sich, die er niemandem hätte beschreiben können.
Einen kurzen Moment lang wuchs das Gefühl der Panik und schien das labile Gleichgewicht seiner Gedanken und Gefühle umzukippen. Eine Schlagzeile leuchtete in seinem Gehirn auf, COP UNTER ANKLAGE BEI EINBRUCH GEFASST, dann faßte er sich wieder . Wenn man an Scheitern dachte, beschwor man es herauf. Als er die Treppe entdeckte, ging er sofort auf sie zu. Er glaubte, daß Mora seine Trophäen entweder in seinem Schlafzimmer oder in der Nähe eines Fernsehers aufbewahrte. Statt sich zum Schlafzimmer vorzuarbeiten, würde er dort beginnen. Vielleicht gab es ja dort einen Fernseher.
Die erste Etage war unterteilt in zwei Schlafzimmer, zwischen denen ein Badezimmer lag. Das Schlafzimmer auf der rechten Seite war in einen Übungsraum verwandelt worden. Mehrere verchromte Geräte standen dort herum: eine Rudermaschine, ein Standfahrrad und ein Gerät, das Bosch nicht kannte. Außerdem gab es ein Gestell für Gewichtsscheiben und eine Bank zum Gewichtheben, über der eine Stange lag. An einer Wand des Raums war ein Spiegel angebracht, der von der Decke bis zum Boden reichte. Von einem Punkt in Augenhöhe gingen Sprünge in alle Richtungen aus. Einen Moment lang betrachtete Bosch sich und musterte sein zersprungenes Ebenbild. Er dachte darüber nach, wie Mora hier sein Gesicht studierte.
Bosch sah auf die Uhr. Es war schon dreißig Minuten her, daß Mora ins Kino gegangen war. Er holte das Radio heraus.
»Eins, was macht er?«
»Er ist immer noch drinnen. Was machst du?«
»Immer noch Hausarbeit. Melde dich, wenn du mich brauchst.«
»Etwas Interessantes im Fernsehen?«
»Noch nicht.«
Dann war Rollenbergers Stimme zu hören.
»Team Eins und Sechs, lassen Sie die Privatgespräche und benutzen sie das Funkgerät nur für zweckdienliche Meldungen. Team Leiter, Ende.«
Weder Bosch noch Sheehan bestätigten seinen Funkspruch.
Bosch ging über den Flur zum anderen Zimmer. Hier war Moras Schlafzimmer. Das Bett war nicht gemacht und Kleidung hing über einem Stuhl am Fenster. Bosch entfernte etwas Isolierband von der Taschenlampe, um einen größeren Blickwinkel zu haben.
An der Wand über dem Bett hing ein Bild von Jesus, seine Augen nach unten gerichtet, sein heiliges Herz sichtbar auf der Brust. Bosch ging zum Nachtschränkchen und leuchtete auf ein eingerahmtes Foto neben dem Wecker. Es zeigte eine junge, blonde Frau und Mora. Wahrscheinlich seine Ex-Frau. Ihre Haare waren hellblond gefärbt, und Bosch registrierte, daß sie den Opfern körperlich sehr ähnlich war. Ermordete Mora seine Ex-Frau wieder und wieder? Aber das war eher eine Frage für Locke und die anderen Psychiaterhäuptlinge. Hinter dem Foto stand ein Heiligenbild. Bosch nahm es in die Hand und leuchtete es an. Es war der Infant von Prag, über dem Kopf des kleinen Königs schwebte ein goldener Heiligenschein.
Die Schublade des Nachtschränkchens enthielt alltäglichen Krimskram: Spielkarten, Aspirin, eine Lesebrille, Kondome – nicht die Lieblingsmarke des Puppenmachers – und ein kleines Adressbuch. Bosch setzte sich
Weitere Kostenlose Bücher