Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
Papiertaschentuch Tränen von der Wange tupfte. Sie hatte eine birnenförmige Figur, kurzes dunkles Haar und kleine, wässerig blaue Augen. Sie war der Inbegriff einer Hausfrau und Mutter aus den Vororten bis zu dem Morgen gewesen, als Bosch ihren Mann erschossen hatte und Polizisten mit einem Durchsuchungsbefehl sowie Reporter mit vielen Fragen vor ihrer Tür standen. Bosch hatte Mitgefühl für sie empfunden und sie sogar zu den Opfern gezählt, bis sie sich Money Chandler als Anwältin nahm und begann ihn als Mörder zu bezeichnen.
»Die Beweise werden zeigen, meine Damen und Herren, daß Detective Bosch ein Produkt dieses Polizeiapparats ist, eine gefühllose, arrogante Maschine, die Gerechtigkeit nach eigenem Gutdünken zuteil werden ließ. Sie werden entscheiden, ob die Polizei so handeln darf. Es ist Ihre Aufgabe, eine Ungerechtigkeit wieder gutzumachen und einer Familie, der der Vater und Ehemann genommen wurde, Gerechtigkeit zu verschaffen.
Zum Abschluß möchte ich einen deutschen Philosophen mit dem Namen Friedrich Nietzsche zitieren, der vor einem Jahrhundert etwas schrieb, was zu diesem Fall paßt. Er sagte: ›Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.‹
Meine Damen und Herren, genau darum geht es in diesem Fall. Detective Harry Bosch hat nicht nur in den Abgrund geblickt, sondern in der Nacht, in der Norman Church ermordet wurde, schaute der Abgrund in ihn hinein. Die Finsternis umfing ihn und Detective Bosch stürzte. Er verwandelte sich in das, was er bekämpfte. Ein Ungeheuer. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Beweise Sie zu diesem Schluß führen werden. Vielen Dank.«
Chandler nahm wieder ihren Platz ein und legte tröstend ihre Hand auf Deborah Churchs Arm. Bosch wußte, daß diese Geste der Jury galt, nicht der Witwe.
Der Richter schaute auf die Messingzeiger der in der Mahagonitäfelung eingebauten Uhr über der Saaltür und kündigte eine fünfzehnminütige Pause an, nach der Belk das Wort hatte. Als Bosch für die Geschworenen aufstand, merkte er, daß ihn eine von Churchs Töchtern von ihrem Platz in der ersten Reihe aus anstarrte. Er schätzte, sie war dreizehn. Die ältere Tochter, Nancy. Schnell sah er weg und fühlte sich schuldig. Er fragte sich, ob irgend jemand von der Jury es mitbekommen hatte.
Belk erklärte, er würde die Pause benötigen, um seinen Vortrag an die Jury noch einmal durchzugehen. Bosch hätte am liebsten die Snack-Bar im fünften Stock aufgesucht, weil er immer noch nichts gegessen hatte, aber wahrscheinlich würden auch einige der Geschworenen dort sein, oder, was noch schlimmer war, Angehörige von Church. Statt dessen fuhr er mit der Rolltreppe hinunter zur Eingangshalle und ging hinaus zum Aschenkübel. Draußen steckte er sich eine Zigarette an und lehnte sich gegen den Sockel der Statue. Er fühlte, wie verschwitzt er unter seinem Anzug war. Chandlers einstündiges Plädoyer war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen – eine Ewigkeit im Auge der Öffentlichkeit. Der Anzug würde nicht für die ganze Woche reichen, er müßte nachsehen, ob sein anderer sauber war. Die Beschäftigung mit solchen Nebensächlichkeiten entspannte ihn schließlich.
Er hatte schon seine erste Zigarette im Sand ausgedrückt und war dabei, die zweite zu rauchen, als sich die Glastür des Gerichts öffnete. Honey Chandler hatte die schwere Tür mit ihrem Rücken aufgestoßen und ihn daher nicht gesehen. Draußen drehte sie sich um und beugte sich vor, um sich mit einem goldenen Feuerzeug eine Zigarette anzustecken. Als sie sich aufrichtete und ausatmete, bemerkte sie ihn. Sie kam herüber zur Tonne mit der Absicht, ihre gerade angezündete Zigarette wieder auszudrücken.
»Es ist okay«, sagte Bosch. »Soviel ich weiß, ist das die einzige weit und breit.«
»Das stimmt. Aber ich glaube, es ist für uns beide nicht erfreulich, uns außerhalb des Gerichtssaals zu sehen.«
Er zuckte die Schultern und erwiderte nichts. Es war ihre Entscheidung; sie konnte gehen, wenn sie wollte. Sie machte einen Zug an der Zigarette.
»Nur die halbe. Ich muß sowieso wieder rein.«
Er nickte und schaute zur Spring Street. Vor dem County-Gericht warteten Leute in einer Schlange, um durch den Metalldetektor zu gehen. Noch mehr Boat People. Er sah, wie der Obdachlose die Stufen heraufkam, um seine Nachmittagskollekte aus der Tonne zu klauben. Der Mann drehte sich plötzlich
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