Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
Polizei hat, von Rodney King, der von Streifenpolizisten zusammengeschlagen wurde, und von den Krawallen, die es deswegen gab. All dies – falls man Honey Chandler Glauben schenken wollte – waren schwarze Blumen, deren Samen Harry Bosch ausgesät hatte, als er Norman Church tötete. Bosch hörte, wie sie weiterredete, folgte aber nicht mehr ihrem Vortrag. Er hielt die Augen offen und schaute ab und zu einem Geschworenen ins Gesicht. Ansonsten zog er sich in seine eigene Welt zurück. Das war seine Verteidigung. Die Geschworenen, die Anwälte und der Richter würden eine Woche oder mehr damit verbringen, das auseinanderzunehmen, was er in weniger als fünf Sekunden gedacht und getan hatte. Um das durchzustehen, mußte er ab und zu abschalten.
Er erinnerte sich an Churchs Gesicht. Zum Schluß, in dem Apartment über der Garage an der Hyperion Street. Ihre Blicke hatten sich ineinander verfangen. Die Augen, die Bosch sah, waren die eines Killers, finster wie der Stein an Chandlers Kehle.
»… selbst wenn er nach einer Pistole griff, würde das einen Unterschied machen?« sagte Chandler. »Ein Mann hatte die Tür eingetreten, ein Mann mit einem Revolver. Wer könnte ihm etwas vorwerfen, hätte er nach einer Waffe gegriffen, um sich zu verteidigen. Die Tatsache, daß er nach so etwas scheinbar Lächerlichem wie einem Haarteil griff, macht diesen Vorfall nur noch abscheulicher. Er wurde kaltblütig umgebracht. Das können wir als Gesellschaft nicht akzeptieren.«
Bosch schaltete wieder ab und dachte an das neue Opfer, das wahrscheinlich jahrelang in dem Betonsarkophag gelegen hatte. Er fragte sich, ob sie als vermißt gemeldet worden war, ob es eine Mutter, einen Vater, einen Mann oder ein Kind gab, die all die Jahre an sie gedacht hatten. Nachdem er ins Gericht zurückgekehrt war, hatte er Belk von der Entdeckung erzählt. Er hatte Belk gebeten, er solle bei Richter Keyes eine Aussetzung des Prozesses beantragen. Eine Verschiebung, bis man mehr über den neuen Fall wüßte. Aber Belk war ihm ins Wort gefallen und hatte gesagt, je weniger er wisse, desto besser. Die Implikationen des neuen Fundes schienen Belk so sehr zu ängstigen, daß er sich für die entgegengesetzte Strategie entschied. Er wollte den Prozeß durchziehen, bevor die Nachrichten von der Entdeckung und der möglichen Verbindung zum Puppenmacher publik wurden.
Chandler näherte sich jetzt dem Ende der für ihre Ausführungen vorgesehenen Stunde. Sie hatte sich endlos über die polizeilichen Vorschriften zum Schußwaffengebrauch ausgelassen, und Bosch dachte, daß sie die Aufmerksamkeit der Geschworenen verloren hatte. Zeitweilig hörte ihr sogar Belk nicht mehr zu, sondern blätterte in seinem eigenen gelben Block und probte in Gedanken seinen Auftritt.
Belk war korpulent – Bosch schätzte, er hatte siebzig Pfund Übergewicht – und schwitzte fast ständig, sogar in dem kühlen Gerichtssaal. Bosch hatte sich oft während der Auswahl der Geschworenen gefragt, ob Belk wegen der Last des eigenen Gewichts schwitzte oder wegen der Belastung, gegen Chandler und vor Keyes als Verteidiger anzutreten. Belk war unter Dreißig, schätzte Bosch, und hatte vor allerhöchstens fünf Jahren sein Jurastudium an einer mittelmäßigen Universität abgeschlossen. Chandler war ihm haushoch überlegen.
Das Wort »Gerechtigkeit« ließ Bosch auffahren. Er wußte, daß Chandler zum Endspurt angesetzt hatte und auf die Zielgerade einbog, als sie begann, das Wort in jedem Satz zu verwenden. In Zivilprozessen waren Gerechtigkeit und Geld austauschbar, weil sie das Gleiche bedeuteten.
»Die Gerechtigkeit, die Norman Church widerfuhr, war nicht von langer Dauer. Seine Gerechtigkeit hatte die kurze Zeitspanne, die Detective Bosch benötigte, die Tür einzutreten, seinen hochglänzenden 9mm Smith & Wesson auf ihn zu richten und abzudrücken. Seine Gerechtigkeit war ein Schuß. Die Kugel, die Detective Bosch für die Hinrichtung von Mr. Church gewählt hatte, hat den Namen XTP, eine Abkürzung für Extreme Terminal Performance. Beim Aufprall dehnt sie ihre Breite aufs Anderthalbfache aus und reißt große Fetzen aus dem Gewebe und den Organen in ihrer Bahn heraus. Sie hat Mr. Church das Herz zerrissen. Das war Gerechtigkeit.«
Bosch merkte, daß die meisten Geschworenen nicht zu Chandler schauten, sondern zum Tisch der Klägerpartei. Indem er sich etwas nach vorne beugte, konnte er an dem Pult vorbeiblicken und sehen, wie die Witwe, Deborah Church, sich mit einem
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