Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
um und ging wieder hinunter zur Spring Street. Einmal sah er sich beim Gehen ängstlich um.
»Er kennt mich.«
Bosch schaute Chandler an.
»Er kennt Sie?«
»Er war früher einmal Rechtsanwalt. Tom Soundso. Ich kann mich nicht … Faraday, so hieß er. Wahrscheinlich wollte er nicht, daß ich ihn in diesem Zustand sehe. Aber jeder hier kennt ihn. Er erinnert die Leute ständig daran, was passieren kann, wenn alles falsch läuft.«
»Was ist passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzählt es Ihnen Ihr Anwalt. Darf ich Sie etwas fragen?«
Bosch antwortete nicht.
»Warum hat die Stadt sich nicht verglichen? Rodney King, die Krawalle. Es ist so ziemlich der schlechteste Zeitpunkt, einen Polizisten vor Gericht verteidigen zu müssen. Ich glaube nicht, daß Bulk – ich nenne ihn so, weil er fett ist: schließlich nennt er mich Money – weiß, was er überhaupt machen soll. Und Sie sind derjenige, den man den Wölfen zum Fraß vorwerfen wird.«
Bosch überlegte einen Moment, bevor er antwortete.
»Es bleibt unter uns, Detective Bosch. Ich unterhalte mich nur privat mit Ihnen.«
»Ich habe ihm untersagt, einem Vergleich zuzustimmen. Ich habe ihm gesagt, falls er einen Vergleich ausarbeitet, hole ich mir meinen eigenen Anwalt.«
»Sie sind sich so sicher?« Sie machte einen Zug an der Zigarette. »Nun, wir werden sehen, schätz’ ich.«
»Schätz’ ich.«
»Nehmen Sie es nicht persönlich.«
Er hatte gewußt, daß sie den Spruch einflechten würde. Die dickste Lüge im ganzen Spiel.
»Vielleicht können Sie das.«
»Oh, und Sie nicht. Sie erschießen einen unbewaffneten Mann und dann nehmen Sie’s persönlich, wenn die Witwe was dagegen hat und Sie verklagt?«
»Der Ehemann Ihrer Klientin hatte die Angewohnheit, den Schulterriemen von den Handtaschen seiner Opfer zu schneiden, ihnen als Schlinge um den Hals zu legen und dann langsam zuzuziehen, während er sie vergewaltigte. Was für Frauen es waren, war ihm gleichgültig. Nur das Leder nicht.«
Sie verzog keine Miene. Er hatte es nicht erwartet..
»Der verstorbene Ehemann. Der verstorbene Ehemann meiner Klientin. Und das einzige, was bei diesem Fall sicher und beweisbar ist, ist, daß Sie ihn getötet haben.«
»Genau, und ich würd’s wieder tun.«
»Das weiß ich, Detective Bosch. Deshalb sind wir hier.«
Sie schürzte ihre Lippen zu einem erstarrten Kuß und spannte ihren Unterkiefer. Ein Strahl der Nachmittagssonne, die in die Spring Street schien, fing sich in ihrem Haar. Wütend drückte sie ihre Zigarette aus und ging hinein. Die Türe flog beiseite, als wäre sie aus Balsaholz.
4
Kurz vor vier fuhr Bosch auf den Parkplatz hinter dem Polizeirevier an der Wilcox Avenue. Belk hatte nur zehn Minuten der ihm zur Verfügung stehenden Zeit für sein Eröffnungsplädoyer benutzt, und Richter Keyes hatte die Verhandlung früher beendet, weil er mit den Zeugenaussagen nicht am gleichen Tag beginnen wollte, damit die Geschworenen nicht beweiskräftige Aussagen und Anwaltsphrasen durcheinanderbrachten.
Bosch hatte sich während der kurzen Ansprache Belks nicht wohl gefühlt, aber Belk hatte ihm versichert, es gebe keinen Anlaß zur Sorge. Er nahm den Hintereingang neben der Ausnüchterungszelle und ging auf dem rückseitigen Flur zum Detective-Büro. Um vier war das Büro normalerweise leer. So war es auch jetzt, abgesehen von Jerry Edgar, der vor einer der Schreibmaschinen hockte und ein Formular ausfüllte. Wie Harry sah, war es ein 51, ein chronologisches Ermittlungsprotokoll. Edgar blickte auf und sah Bosch auf sich zukommen.
»Wo stehste, Harry?«
»Vor dir.«
»Früh fertig geworden. Ich weiß! Der Richter hat die Klage abgewiesen und Money Chandler einen Tritt in den Arsch versetzt.«
»Schön wär’s.«
»Ich kann dich verstehen.«
»Was hast du bis jetzt?«
Edgar erklärte, sie hätten bisher nichts. Noch keine Identifizierung. Bosch setzte sich an seinen Schreibtisch und lockerte seine Krawatte. Pounds Büro war dunkel, es war also ungefährlich zu rauchen. Seine Gedanken kehrten zum Prozeß und zu Money Chandler zurück. Während ihrer Ausführungen hatte sie so gut wie nie die Aufmerksamkeit der Geschworenen verloren. Sie hatte Bosch mehr oder weniger einen Mörder genannt, ihn mit emotional geladenen Vorwürfen attackiert. Belk hatte darauf mit einer akademischen Vorlesung über Gesetze und das Recht eines Polizisten bei Gefahr im Verzuge tödliche Gewalt anzuwenden geantwortet. Auch wenn es sich
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