Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
Meute zum Opfer fällt. Sein Buch war die Warnung.‹«
Sie sah auf.
»Sie schreibt noch mehr, aber das war der Teil, den ich dir vorlesen wollte. Sie ist erst im zehnten Schuljahr aber nimmt schon fortgeschrittenere Kurse. Irgendwie hat sie etwas ganz Bewegendes hier erfaßt.«
Er bewunderte sie, weil ihr alles Zynische fremd war. Sein erster Gedanke war gewesen, daß das Mädchen es abgeschrieben hatte. Woher sollte sie das Wort »präfigurieren« kennen. Aber Sylvia sah darüber hinweg. Sie sah das Schöne in den Dingen. Er sah die Dunkelheit.
»Es ist gut«, sagte er.
»Sie ist Afro-Amerikanerin. Sie kommt mit dem Bus – ich glaube aus dem Crenshaw-Bezirk. Sie ist eine meiner intelligentesten Schülerinnen, aber ich mache mir Sorgen, weil sie mit dem Bus fährt. Sie sagt, die Fahrt dauert fünfundsiebzig Minuten, und in der Zeit liest sie, was ich ihr aufgebe. Aber ich mache mir Sorgen. Sie wirkt so sensibel, vielleicht zu sensibel.«
»Mit der Zeit wird ihr schon eine Hornhaut übers Herz wachsen. Wie jedem.«
»Nein, nicht jedem, Harry. Deshalb mach ich mir Sorgen um sie.«
Sie schaute lange zu ihm in die Dunkelheit hinüber.
»Es tut mir leid, daß ich dich gestört habe.«
»Du störst mich nie, Sylvia. Entschuldige, daß ich das mitgebracht habe. Wenn du willst, kann ich gehen und es mit zu mir nehmen.«
»Nein, Harry, ich will dich hier haben. Soll ich Kaffee kochen?«
»Nein, ich brauche nichts.«
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, und er schaltete das Licht wieder an. Er betrachtete wieder die Bilder. Obwohl sie sich wegen des vom Killer aufgetragenen Make-ups im Tod ähnelten, fielen sie in unterschiedliche Kategorien in bezug auf Rasse, Größe, Haarfarbe, etc.
Locke hatte der Fahndungsgruppe erklärt, dies bedeute, daß der Killer nicht wählerisch sei. Ihm ginge es nicht um einen bestimmten Typ, sondern nur darum, ein Opfer zu finden, daß er dann seinem erotischen Programm einverleiben könne. Es sei ihm ganz egal, ob sie schwarz oder weiß seien, solange er sie ohne große Gefahr töten könne. Er schwimme ganz unten im Menschenmeer, wo die Frauen schon Opfer waren, bevor sie in seine Hände fielen. Es waren Frauen, die ihre Körper schon lange an fremde Hände und Augen ausgeliefert hatten. Sie waren dort draußen und warteten auf ihn. Die entscheidende Frage war jetzt, ob der Puppenmacher auch noch dort draußen sein Unwesen trieb.
Er setzte sich und nahm aus einem Ordner eine Karte von West L. A. Die Faltstellen knisterten und rissen an einigen Stellen ein, als er sie öffnete und auf den Fotos ausbreitete. Die schwarzen Klebepunkte, die die Leichenfundstellen bezeichneten, waren noch an ihren Plätzen. Neben jedem schwarzen Punkt stand der Name des Opfers und wann sie gefunden wurden. Die Fahndungsgruppe hatte bis zum Tod von Church ihrer geographischen Verteilung keine Bedeutung zugemessen. Die Leichen hatte man an Orten zwischen Silverlake und Malibu gefunden. Der Puppenmacher hatte den ganzen Westteil der Stadt mit seinen Opfern übersät. Allerdings waren die meisten Leichen in Silverlake und Hollywood gefunden worden, nur je eine in Malibu und West Hollywood.
Der Fundort der Beton-Blondine lag viel weiter südlich als der der vorherigen Leichen. Sie war als einzige vergraben worden. Locke hatte gesagt, daß der Mörder die Leichen dort hinlegte, wo es für ihn am einfachsten war. Dies schien nach Churchs Tod bestätigt zu werden. Vier der Opfer hatte er nur eine Meile von seinem Apartment in Silverlake fortgeschafft. Die anderen vier waren im Osten von Hollywood gefunden worden, ebenfalls nur eine kurze Fahrtstrecke entfernt.
Die Daten hatten nichts für die Ermittlungen gebracht. Kein Muster. Zuerst schienen die Zeitabstände zwischen den Funden abzunehmen, aber dann gab es größere Abweichungen. Anfänglich waren die Intervalle zwischen den Morden fünf Wochen lang, dann zwei, dann drei. Es gab nichts her für die Untersuchung, und die Detectives beachteten es nicht mehr.
Bosch machte weiter. Er las das biographische Material durch, das man für jedes Opfer zusammengestellt hatte. Es war meistens spärlich – zwei bis drei Seiten über ihr trauriges Leben. Eine der Frauen, die nachts auf dem Hollywood Boulevard angeschafft hatte, hatte tagsüber eine Ausbildung als Kosmetikerin gemacht. Eine andere hatte regelmäßig Geld nach Chihuahua in Mexiko zu ihren Eltern geschickt, die glaubten, sie hätte einen tollen Job als Führerin im berühmten Disneyland. Es gab manchmal
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