Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
abgedriftet.
Belks Fragen waren anscheinend so wirkungslos, daß Chandler sich noch nicht einmal die Mühe machte, mit einem zweiten Kreuzverhör zu kontern, und Bosch durfte den Zeugenstand verlassen. Er hatte das Gefühl, als würde der Weg bis zum Tisch der Verteidigung mindestens eine Meile betragen.
»Nächster Zeuge, Mr. Belk?« fragte der Richter.
»Euer Ehren, könnten Sie mir ein paar Minuten Zeit geben?«
»Sicher.«
Belk wandte sich zu Bosch und flüsterte: »Wir schließen unsere Beweisführung ab. Haben Sie etwas dagegen?«
»Ich weiß nicht.«
»Es gibt niemanden, den wir noch aufrufen könnten. Es sei denn, Sie wollten noch andere Mitarbeiter der Fahndungsgruppe vorladen. Aber sie werden mehr oder weniger das sagen, was Sie gesagt haben, und von Chandler auf gleiche Weise behandelt werden. Das möchte ich eher vermeiden.«
»Warum rufen wir nicht Locke in den Zeugenstand zurück? Er wird alles bestätigen, was ich über den Nachahmungstäter gesagt habe.«
»Zu riskant. Er ist Psychologe. Bei allen Fragen, die er uns mit ›ist möglich‹ beantwortet, wird er ihr gegenüber zugeben, daß es möglicherweise auch nicht so ist. Wir haben in der Sache keine Zeugenaussage von ihm aufgenommen und können nicht wissen, was er sagen wird. Außerdem glaube ich, daß wir nicht den zweiten Mörder in den Fall hineinziehen sollen, es verwirrt nur die Jury und wir …«
»Mr. Belk«, sagte der Richter. »Wir warten.«
Belk stand auf und sagte: »Euer Ehren, die Verteidigung schließt die Beweisführung ab.«
Der Richter starrte Belk lange an. Dann wandte er sich den Geschworenen zu und sagte ihnen, daß sie den Rest des Tages frei hätten, weil die Anwälte den Nachmittag bräuchten, um ihre Plädoyers vorzubereiten, und er, um die Instruktionen für die Jury zu verfassen.
Nachdem die Geschworenen den Saal verlassen hatten, ging Chandler zum Pult. Sie stellte einen Antrag auf richterlichen Urteilsspruch zugunsten der Klägerin, den der Richter ablehnte. Belk tat das gleiche und beantragte ein richterliches Urteil zugunsten des Beklagten. Der Richter sagte ihm in sarkastischem Ton, er solle sich hinsetzen.
Bosch traf Sylvia draußen im Gang, nachdem es mehrere Minuten gedauerte hatte, bis sich der überfüllte Gerichtssaal geleert hatte. Ein Schwarm von Reportern hatte sich um die zwei Anwälte versammelt, und Bosch faßte sie am Arm und ging mit ihr den Gang hinunter.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht herkommen, Sylvia.«
»Ich weiß, aber ich dachte, daß ich kommen müßte. Du solltest wissen, daß ich dich unterstütze, was auch geschieht, Harry. Ich weiß Sachen über dich, die die Jury nie wissen wird. Ganz egal wie sie dich darstellt, ich kenne dich. Vergiß das nicht.«
Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem silbrig weißen Muster, das Bosch gefiel. Sie sah wunderschön aus.
»Ich, hm, ich … Wie lang warst du hier?«
»Fast von Anfang an. Ich bin froh, daß ich gekommen bin. Ich weiß, es war ziemlich schwer für dich, aber ich konnte sehen, wie das Gute in dir zum Vorschein kam und durch deine Härte, die mit deinem Job zusammenhängt, hindurchbrach.«
Er sah sie einen Augenblick nur an.
»Sei optimistisch, Harry.«
»Das Zeug über meine Mutter …«
»Ja, ich hab’ es gehört. Es tat mir weh, daß ich es hier erfahren mußte. Harry, was ist mit uns los, wenn es solche Geheimnisse zwischen uns gibt? Wie oft soll ich dir noch sagen, daß das unsere Beziehung gefährdet.«
»Hör zu«, sagte er, »ich kann nicht im Moment. Mich hiermit auseinandersetzen und mit dir, uns – es ist zuviel für mich. Es ist nicht der richtige Platz. Laß uns später darüber sprechen. Du hast recht, Sylvia, aber ich kann einfach nicht sprechen. Ich …«
Sie griff nach oben, rückte seine Krawatte zurecht und strich sie dann über der Brust glatt.
»Ist schon gut«, sagte sie. »Was wirst du jetzt tun?«
»Den Fall weiterverfolgen. Offiziell oder nicht, ich muß weitermachen. Ich muß den zweiten Mann, den zweiten Mörder finden.«
Sie sah ihn ein paar Sekunden an, und er begriff, daß sie eine andere Antwort erhofft hatte.
»Es tut mir leid. Aber ich kann es nicht aufschieben. Alles kommt jetzt ins Rollen.«
»Ich fahre dann zur Schule. Damit ich nicht den ganzen Tag verliere. Wirst du heute abend kommen?«
»Ich versuch’s.«
»Okay, Harry, bis dann. Sei optimistisch.«
Er lächelte, und sie schmiegte sich an und küßte ihn auf die Wange. Dann ging sie zur Rolltreppe.
Bosch
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