Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
einen vorsichtigen Annäherungsversuch unternommen hatte, könnte durchaus auch ein Räuber in ihr gesehen haben, wonach ihm der Sinn stand.
Dennoch hatte das Agententeam, das den Fall ursprünglich zugeteilt bekommen hatte, seine Zweifel, dass Gessler in das Schema früherer Opfer am Pass passte. Gesslers Auto signalisierte keinen Reichtum. Außerdem wäre sie eine gefährliche Gegnerin gewesen. Sie war eine hervorragend ausgebildete FBI-Agentin. Darüber hinaus war sie groß, fast eins achtzig, und etwas über sechzig Kilo schwer. Sie trainierte regelmäßig im L.A. Fitness Club am Sepulveda Boulevard und hatte mehrere Jahre lang Tai-Bo gemacht. Aus ihren Tabellen im Club ging hervor, dass sie null Prozent Körperfett gehabt hatte. Sie bestand vorwiegend aus Muskeln, und sie wusste, wie sie sie einsetzen konnte.
Außerdem war Gessler bekannt dafür gewesen, dass sie ihre Dienstwaffe auch trug, wenn sie nicht im Dienst war. Am Abend ihres Verschwindens hatte sie eine schwarze Hose, einen schwarzen Blazer und eine weiße Bluse getragen. Ihre Pistole, eine 9 mm Smith & Wesson, war in einem Holster an ihrer rechten Hüfte. Der Mann an der Kasse der Tankstelle konnte sich erinnern, die Waffe gesehen zu haben, weil Gessler beim Tanken ihren Blazer nicht angehabt hatte. Der Blazer wurde später in ihrem Taurus gefunden, wo er am hinteren Fenster der Fahrerseite von einem Kleiderbügel hing.
Das alles bedeutete, dass Gessler, als ihr an besagtem Abend irgendwo auf dem Pass jemand hinten reinfuhr, mit einer Schusswaffe ausstieg, die ganz deutlich an ihrer Hüfte zu sehen war. Es stieg also eine Frau aus, die ihre Körperkraft einzusetzen wusste und großes Vertrauen in sie hatte. Das war eine Mischung, die auf einen Angreifer mit ziemlicher Sicherheit eine extrem abschreckende Wirkung gehabt hätte, sodass er sich vermutlich ein anderes Opfer gesucht hätte.
Beim FBI hielt man es deshalb für sehr unwahrscheinlich, dass Gessler zufällig Opfer eines Verbrechens geworden war, und entsprechend ging Lindell bei seinen Ermittlungen davon aus, dass Gessler wegen ihrer FBI-Zugehörigkeit ganz gezielt ausgewählt worden war.
Die Berichte über diesen Aspekt des Ermittlungsverfahrens machten mehr als die Hälfte der Dokumente aus, die der Ordner enthielt. Ich wusste zwar, dass ich nicht die vollständige Ermittlungsakte hatte, aber mir war klar, dass die für den Fall zuständigen Agenten bei der Suche nach möglichen Ursachen für Gesslers Verschwinden nichts unversucht gelassen hatten. So hatten sie sämtliche Fälle, die Gessler seit ihrer Versetzung nach Los Angeles bearbeitet hatte, auf mögliche Zusammenhänge mit dem laufenden Verfahren untersucht. Partner und Kollegen aus ihrer gesamten FBI-Dienstzeit wurden befragt, ob sie sich Feinde gemacht oder Drohungen erhalten hatte. Unter diesen Gesprächsprotokollen befand sich auch die Zusammenfassung der in Las Vegas erfolgten Vernehmung der ehemaligen FBI-Agentin Eleanor Wish, meiner Exfrau, die zum damaligen Zeitpunkt fast zehn Jahre nicht mehr mit der Vermissten gesprochen hatte. Sie konnte sich weder an irgendwelche Drohungen noch an sonst etwas erinnern, was für die Ermittlungen von Nutzen hätte sein können.
Jeder Straftäter, den Gessler vor Gericht belastet oder ins Gefängnis gebracht hatte, wurde ausfindig gemacht und überprüft. Die meisten hatten ein Alibi. Keiner kam ernsthaft als Verdächtiger in Frage.
Der Akte zufolge hatte sich Gessler beim FBI in Los Angeles als Anlaufstelle für alle Anfragen in Zusammenhang mit computergestützten Fahndungen und Ermittlungen etabliert. In einem riesigen bürokratischen Apparat wie dem FBI war das ganz normal. Wenn FBI-Agenten aus L.A. einen Antrag auf IT-Unterstützung stellten, wurde dieser an Dienststellen in Washington und Quantico weitergeleitet, und manchmal dauerte es Tage, bis er genehmigt wurde, und Wochen, bis irgendwelche konkreten Ergebnisse zurückkamen. Nun hatte Gessler einer immer weiter verbreiteten Spezies von Agenten angehört, die sehr gut mit dem Computer umgehen konnten und solche Dinge lieber selbst in die Hand nahmen. Das bekam der Leiter der FBI-Zentrale in Los Angeles mit, und das hatte zur Folge, dass Gessler, die mehrere Jahre im Außendienst für die Abteilung Bankraub tätig gewesen war, in eine neu gegründete IT-Abteilung gesteckt wurde, wo sie Anfragen von Agenten im Außendienst bearbeitete und nebenher ihre eigenen Computerprogramme entwickelte.
Das hieß, dass Gessler zum Zeitpunkt
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