Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
Dorsey ist tot. Er wurde bei einem Überfall auf eine Bar erschossen. Cross hat es ebenfalls ziemlich schwer erwischt. Er sitzt jetzt im Rollstuhl, mit lauter Schläuchen in Arm und Nase.«
»Wann war das?«
»Vor etwa drei Jahren. Die Sache sorgte für einiges Aufsehen.«
Lindells Augen verrieten, dass sein Verstand auf Hochtouren arbeitete. Er rechnete im Kopf nach, überprüfte die Zeitangaben. Das erinnerte mich daran, dass ich eine Zeitlinie für den Fall erstellen musste. Allmählich wurde das Ganze zu unübersichtlich.
»Wie lautet die gängige Meinung, was Gessler angeht? Tot oder lebendig?«
Lindell blickte auf den Ordner auf dem Tisch hinab und schüttelte den Kopf.
»Das darf ich nicht beantworten, Harry. Sie sind kein Polizist, Sie haben keinen offiziellen Status. Sie sind nur irgendein Kerl, der nicht von seiner Dienstmarke und seiner Waffe lassen kann und ein bisschen Wirbel macht. Ich darf Sie nicht weiter einweihen.«
»Schön. Dann beantworten Sie mir wenigstens eine Frage. Und keine Angst. Sie werden damit nichts verraten.«
Er zuckte die Achseln. Seine Antwort würde von der Frage abhängen.
»War mein Anruf heute die erste Verbindung zwischen dem Filmgeldraub und Gessler, auf die Sie gestoßen sind?«
Lindell zuckte wieder die Achseln. Er schien von der Frage überrascht, so, als hätte er mit etwas Schlimmerem gerechnet.
»Nur, damit wir uns recht verstehen: Ich sage damit nicht, dass es eine solche Verbindung gibt. Aber ansonsten ja, es ist das erste Mal, dass diese Möglichkeit in Erwägung gezogen wird. Und genau das ist der Grund, warum ich möchte, dass Sie sich da raushalten und alles weitere uns überlassen. Halten Sie sich da einfach raus, Harry.«
»Aber sicher, das habe ich bereits gesagt bekommen. Vom FBI, wenn mich nicht alles täuscht.«
Lindell nickte.
»Gehen Sie lieber nicht auf Kollisionskurs. Sie würden es bereuen.«
Bevor ich mir eine Antwort überlegen konnte, stand er auf. Er fasste in eine seiner Taschen und holte ein Päckchen Zigaretten und ein gelbes Plastikfeuerzeug heraus.
»Ich gehe mal kurz runter, eine rauchen«, sagte er. »Sie haben also ein paar Minuten Zeit, um noch mal über alles nachzudenken. Vielleicht fällt Ihnen ja noch was ein, was Sie mir zu sagen vergessen haben.«
Ich wollte gerade eine weitere verbale Breitseite abfeuern, als ich merkte, dass er sich umdrehte und ohne die Akte hinausging. Sie blieb auf dem Tisch liegen, und ich wusste instinktiv, dass er das absichtlich machte. Er wollte, dass ich die Akte sah.
An diesem Punkt wurde mir klar, dass unser Gespräch aufgezeichnet wurde. Was er zu mir gesagt hatte, war für eine Tonaufzeichnung oder möglicherweise auch für einen mithörenden Vorgesetzten bestimmt. Was er mir zu tun gestattete, war etwas anderes.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte ich. »Da ist einiges, worüber ich nachdenken muss.«
»Schöne Scheiße mit 'nem Bundesgebäude. Ich muss extra bis ganz nach unten fahren.«
Als er die Tür öffnete, sah er sich nach mir um und zwinkerte mir zu. Sobald die Tür zu war, zog ich den Ordner heran und schlug ihn auf.
12
Auf dem Etikett des Ordners stand Martha Gesslers Name. Ich holte meinen Notizblock heraus und notierte mir das oben auf einer neuen Seite, bevor ich den drei Zentimeter dicken Ordner aufschlug und mir ansah, was Lindell mir dagelassen hatte. Ich schätzte, ich hatte rund fünfzehn Minuten Zeit, um die Akte durchzusehen.
Ganz oben auf den Dokumenten im Ordner war ein Zettel, auf dem nur eine Telefonnummer stand. Ich nahm an, er war für mich bestimmt, weshalb ich ihn faltete und einsteckte. Der Rest der Akte bestand aus Ermittlungsprotokollen, von denen die meisten Lindells Namen und Unterschrift trugen. Den Protokollen zufolge arbeitete er für das OPR. Das war das Office of Professional Responsibility, die Dienstaufsicht des FBI, wie ich wusste.
Der Ordner enthielt die Berichte, in denen der Stand der Ermittlungen im Fall der am 19. März 2000 spurlos verschwundenen Martha Gessler protokolliert war. Dieses Datum erschien mir sofort als bedeutsam, weil ich wusste, dass Angella Benton am Abend des 16. Mai 1999 ermordet worden war. Demzufolge war Gessler ungefähr zehn Monate später verschwunden, etwa zur gleichen Zeit, zu der die Agentin laut Cross' Aussagen Dorsey wegen der Nummern der Geldscheine angerufen hatte.
Aus der Akte ging hervor, dass Gessler zum Zeitpunkt ihres Verschwindens nicht als Agentin im Außendienst gearbeitet hatte, sondern
Weitere Kostenlose Bücher