Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
ihres Verschwindens Einblick in eine Vielzahl von Ermittlungsverfahren gehabt hatte. Ich sah auf die Uhr und überflog rasch Dutzende von Berichten, in denen detailliert aufgeführt war, was genau sie in dem Monat vor ihrem Verschwinden in den einzelnen Fällen unternommen hatte. Auf der Suche nach Hinweisen darauf, warum Gessler verschwunden sein könnte, verfolgten Lindell und andere für ihn tätige Agenten diese Maßnahmen weiter zurück. Einer potenziellen Spur kamen sie dabei am nächsten, als sie Gesslers Beteiligung an einem Ermittlungsverfahren gegen eine Hostessenagentur nachgingen, die im Internet Frauen für gewisse Stunden anbot. Gessler hatte ihre Nachforschungen im Zuge eines Ermittlungsverfahrens der Abteilung für organisiertes Verbrechen angestellt, in dem aufgedeckt werden sollte, wie weit die asiatische Mafia von Los Angeles am Geschäft mit der Prostitution beteiligt war.
Ich konnte nachlesen, dass Gessler Verbindungen zwischen Internetseiten hatte finden können, die in mehr als einem Dutzend Städte Frauen anboten. Frauen wurden von Stadt zu Stadt und von Kunde zu Kunde verschoben. Das von diesen Agenturen eingenommene Geld floss nach Florida und dann nach New York. Sieben Wochen vor Gesslers Verschwinden verurteilte ein Schwurgericht neun Männer nach dem so genannten RICO-Act, einem Gesetz gegen erpresserische Beeinflussung und korrupte Organisationen. Genau eine Woche vor ihrem Verschwinden sagte Gessler im Zuge einer vor dem eigentlichen Prozess stattfindenden Anhörung über ihre Rolle bei den Ermittlungen in diesem Fall aus. Ihre Aussage wurde als brauchbar bezeichnet, und es wurde angenommen, dass sie vor Gericht aussagen würde, wenn der Prozess begann. Sie war allerdings nicht die wichtigste Zeugin. Wie es schien, sollte ihre Aussage dazu herangezogen werden, eine Verbindung zwischen den Internetseiten und den Angeklagten nachzuweisen. Wichtigster Zeuge war ein Mitglied des Mädchenhändlerrings, der sich gegen einen Straferlass bereit erklärt hatte, mit der Anklagevertretung zu kooperieren.
Die Möglichkeit, Gessler könnte wegen ihrer Zeugenaussage aus dem Weg geräumt worden sein, war zwar ziemlich weit hergeholt, aber sie war bis dahin als der beste Anhaltspunkt erschienen. Der Anzahl der Berichte und der in ihnen enthaltenen Details nach zu schließen, war Lindell bei seinen Ermittlungen sehr gründlich gewesen. Aber anscheinend war nichts dabei herausgekommen. Im letzten Bericht der Akte, der sich auf den RICO-Fall bezog, wurde dieser Aspekt des Ermittlungsverfahrens als ›offen und aktiv, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne substanzielle Anhaltspunkte‹ dargestellt. Wenn ich diese amtliche Ausdrucksweise richtig verstand, hieß das nichts anderes, als dass bei diesem Teil der Ermittlungen nichts herausgekommen war.
Ich klappte den Ordner zu und sah wieder auf die Uhr. Lindell war inzwischen siebzehn Minuten weg. Die Akte hatte keinerlei Hinweise darauf enthalten, dass Gessler einen Bericht geschrieben oder einen Vorgesetzten oder Kollegen davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie die Nummern der Geldscheine auf Cross' und Dorseys Liste zu Vergleichszwecken in ihren Computer eingegeben hatte. Nichts, was darauf hindeutete, dass sie einen Treffer gelandet und beim LAPD angerufen hatte, um zu melden, dass mindestens eine Nummer auf der Liste mit den registrierten Geldscheinen falsch war.
Nachdem ich meinen Notizblock eingesteckt hatte, stand ich auf, streckte mich und begann in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen. Nach einer Weile überprüfte ich den Türknopf und stellte fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Das war gut. Sie hielten mich nicht wie einen Verdächtigen fest. Zumindest noch nicht. Nach ein paar Minuten bekam ich das Warten satt und ging auf den Gang hinaus. Ich schaute in beide Richtungen und sah niemanden, nicht einmal Nunez. Ich ging in das Zimmer zurück und holte den Ordner, dann ging ich auf demselben Weg, auf dem ich gekommen war, nach draußen. Ich erreichte den Wartebereich am Eingang, ohne dass mich jemand aufhielt oder fragte, wohin ich wollte. Ich nickte der Empfangsdame durch die Glasscheibe zu und fuhr mit dem Lift nach unten.
13
Roy Lindell saß auf derselben Bank, auf der ich gesessen hatte, bevor ich das Gebäude betrat. Auf dem Pflaster zwischen seinen Füßen waren drei ausgedrückte Zigaretten. Eine vierte war zwischen seinen Fingern.
»Sie haben sich aber ganz schön Zeit gelassen«, sagte er.
Ich setzte mich neben ihn und
Weitere Kostenlose Bücher